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Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)

Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)

Titel: Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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sie, wie dunkel es war. Sollte wirklich jemand hier reinkommen, würde der Betreffende doch das Licht anmachen. Sie amüsierte sich über ihre Angst und spürte, wie ihr Herz sich beruhigte. Dann schaltete sie die Lampe wieder ein, legte das Beweismaterial in den Kasten und schob ihn zurück ins Regal. Sie achtete darauf, dass die Vorderkante eine Linie mit den Nachbarkästen bildete, und ging zurück in Richtung Ausgang. Ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. Der sie ziemlich überraschte. Sie freute sich darauf, ihn anzurufen. Genau das würde sie tun. Sie würde ihn anrufen und ihm sagen, was sie getan hatte. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen.
    Der Lichtkegel ihrer Lampe war auf etwas gefallen.
    Erst wollte sie weitergehen, der leisen, feigen Stimme in ihrem Kopf gehorchen und rasch das Weite suchen.
    Dann führte sie das Licht zurück.
    Eine unterbrochene Linie.
    Einer der Kästen stand etwas vor.
    Sie trat näher. Leuchtete auf das Etikett.
    Harry glaubte eine Tür schlagen zu hören. Er nahm die Ohrhörer mit den Klängen von Bon Ivers neuer Platte heraus, die bis jetzt dem Hype entsprach, der um sie gemacht wurde. Lauschte. Nichts.
    »Arnold?«, rief er.
    Keine Antwort. Er war es gewohnt, diesen Flügel der PHS so spät am Abend für sich allein zu haben. Vielleicht hatte jemand vom Reinigungspersonal etwas vergessen. Aber ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es nicht Abend, sondern Nacht war. Harry sah nach links auf den Stapel unkorrigierter Tests auf seinem Schreibtisch. Die meisten Studenten hatten die Fragen auf dem groben Recyclingpapier ausgedruckt, das in der Bibliothek zur Verfügung stand und derart viel Abrieb hatte, dass Harry immer mit nikotingelben Fingerspitzen nach Hause kam und sich erst die Hände waschen musste, bevor er Rakel umarmen durfte.
    Er sah aus dem Fenster. Der Mond stand groß und rund am Himmel und spiegelte sich in den Fenstern und Dächern der Häuser im Kirkeveien und im dahinterliegenden Viertel Majorstua. Richtung Süden sah er die grün schimmernde Silhouette des KPMG -Gebäudes neben dem Colosseum-Kino. Er fand den Anblick weder großartig noch schön oder pittoresk. Dies war die Stadt, in der er sein ganzes Leben gelebt und gearbeitet hatte. In Hongkong hatte er manchmal morgens ein bisschen Opium in seine Zigarette gemischt und war auf das Dach des Chungking gestiegen, um den Tag anbrechen zu sehen. Er hatte im Dunkeln gesessen und darauf gehofft, dass die Stadt, die sich bald vor ihm entfaltete, seine Stadt war. Eine bescheidene Stadt mit niedrigen, schäbigen Häusern anstelle der beängstigenden Stahltürme. Er hatte gehofft, Oslos weiche grüne Hügel zu sehen und nicht die steilen, brutalen schwarzen Felswände, die Hongkong umrahmten. Dass er das Scheppern und Bremsenquietschen der Straßenbahn hörte oder die Fähre, die tutend in den Hafen fuhr, um ihre Begeisterung darüber kundzutun, dass sie es wieder einmal geschafft hatte, das Meer von Frederikshavn bis Oslo zu überqueren.
    Harry starrte auf die Tests, die in dem Zirkel aus Licht lagen, der als Einziges das Büro erhellte. Natürlich hätte er auch alles mit in den Holmenkollveien nehmen und bei Kaffee, Radiogeriesel und dem frischen Geruch des Waldes korrigieren können, der durch das Fenster hereinströmte. Natürlich. Aber er hatte sich vorgenommen, nicht darüber nachzudenken, warum er lieber hier als dort allein war. Vermutlich weil er die Antwort kannte. Weil er dort nicht allein war. Nicht ganz. Die schwarz gebeizte Festung konnte auch mit drei Schlössern an der Tür und vergitterten Fenstern die Monster nicht aussperren. In den dunklen Ecken hockten Gespenster und beobachteten ihn aus leeren Augenhöhlen.
    Das Telefon vibrierte in seiner Tasche. Er nahm es heraus und las die SMS auf dem hellen Display. Sie war von Oleg und enthielt keine Buchstaben, sondern bloß eine Reihe von Zahlen. 665625 . Harry lächelte. Noch ganz schön weit bis zu Stephen Krogmans legendärem Tetris-Weltrekord mit 1 648 905 Punkten aus dem Jahr 1999, aber Oleg hatte Harrys Bestmarke in dem beinahe antiken Computerspiel längst geknackt. Ståle Aune hatte mal gesagt, dass es eine Grenze gäbe, hinter der die Tetris-Rekorde nicht mehr beeindruckend, sondern nur noch traurig seien. Und dass Oleg und Harry diese Grenze längst überschritten hätten. Aber niemand sonst wusste von der anderen Grenze, die sie überschritten hatten. Die Grenze ins Jenseits und wieder zurück. Oleg auf einem Stuhl neben Harrys Bett. Harry

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