Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
sich her die Treppe nach unten schob. »Wäre gut, wenn Sie den bis zum Examen könnten. Wenn Sie es so weit schaffen. Denn Sie verstehen doch wohl, dass ich das melden muss.«
»Harry!«
»Nicht weil Sie versucht haben, mich zu nötigen, sondern weil sich mir ganz einfach die Frage stellt, ob Sie die psychische Stabilität haben, die der Polizeidienst erfordert, Silje. Diese Entscheidung überlasse ich der Schulleitung. Sie sollten sich überlegen, wie Sie die davon überzeugen können, dass das nur ein dummer Fehltritt war. Hört sich das jetzt fair an?«
Er öffnete die Tür mit der freien Hand, und als er sie nach draußen schob, drehte sie sich um und sah ihn an. Die wilde, nackte Wut in ihrem Blick bestätigte, was er schon eine ganze Weile über Silje Gravseng gedacht hatte. Sie war ein Mensch, den man möglicherweise nicht mit Polizeibefugnis auf die Allgemeinheit loslassen durfte.
Harry sah ihr nach, als sie durch das Tor und über den Platz in Richtung Chateau Neuf taumelte, wo ein Student stand und eine Zigarette rauchte. Vermutlich brauchte er eine Pause von der Musik, die als leiser Puls von drinnen zu hören war. Er lehnte an einer Straßenlaterne, trug eine Militärjacke à la Kuba 1960 und sah Silje mit gespielt gleichgültigem Blick an, bis sie an ihm vorbei war. Dann drehte er sich um und sah ihr nach.
Harry blieb auf dem Flur stehen und fluchte laut. Einmal. Zweimal. Dann spürte er, dass sein Puls sich beruhigte. Er nahm das Telefon und wählte eine gespeicherte Nummer. Es gab so wenige davon, dass er alle nur mit einem Buchstaben abgespeichert hatte.
»Arnold.«
»Hier ist Harry. Silje Gravseng ist in meinem Büro aufgetaucht. Dieses Mal ist es eskaliert.«
»Oh. Lass hören.«
Harry gab seinem Kollegen die Kurzversion.
»Nicht gut, Harry. Gar nicht gut. Bestimmt übler, als du dir im Moment bewusst bist.«
»Es ist möglich, dass sie irgendwas intus hatte. Vielleicht kam sie von einem Fest. Oder sie hat ganz einfach Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle und dem Realitätssinn. Aber ich brauche einen Rat, wie ich jetzt weiter vorgehen soll. Ich weiß, dass ich das melden muss, aber …«
»Du verstehst nicht. Stehst du noch an der Ausgangstür?«
»Ja?«, erwiderte Harry verwirrt.
»Ist da sonst noch wer?«
»Wer sollte hier denn sein?«
»Irgendwer.«
»Na ja, vor dem Chateau Neuf steht so ein Typ.«
»Hat der sie gehen sehen?«
»Ja.«
»Perfekt! Geh direkt zu ihm. Rede mit ihm. Lass dir seinen Namen und seine Adresse geben. Bitte ihn, auf dich aufzupassen, bis ich komme und dich hole.«
»Du willst was?«
»Das erkläre ich dir später.«
»Soll ich etwa auf deinem Gepäckträger sitzen?«
»Ich verrate dir ein Geheimnis, auch ich habe ein Auto, auf jeden Fall so eine Art Auto. Ich bin in zwanzig Minuten da.«
»Guten … äh Morgen?«, murmelte Bjørn Holm, sah blinzelnd auf seine Uhr, war sich aber nicht sicher, ob er noch immer träumte.
»Hast du geschlafen?«
»Nicht doch«, sagte Bjørn, legte den Kopf auf das Bettgitter und drückte sich das Telefon ans Ohr, als könnte er sie damit noch etwas näher an sich heranholen.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich ein Stückchen von dem Kaugummi habe, das unter Mittets Fahrersitz klebte«, sagte Katrine. »Vielleicht stammt es ja vom Täter, auch wenn das eine ziemlich gewagte Vermutung ist.«
»Könnte stimmen«, sagte Bjørn.
»Du meinst, die Arbeit lohnt sich nicht?« Bjørn glaubte Enttäuschung in ihrer Stimme zu hören.
»Du bist die taktische Ermittlerin«, antwortete er und bereute gleich, nicht etwas Aufmunternderes gesagt zu haben.
In der Pause, die folgte, fragte er sich, wo sie jetzt wohl war. Zu Hause? Auch im Bett?
»Ja, ja«, seufzte sie. »Eine Sache war ziemlich merkwürdig.«
»Ja?«, sagte Bjørn und merkte gleich, dass er den Enthusiasmus übertrieb.
»Während ich in der Asservatenkammer war, hörte es sich so an, als wäre jemand gekommen und gegangen. Ich kann mich natürlich auch irren, aber irgendwie sah es so aus, als hätte jemand die Archivkästen verschoben. Und weisst du, von welchem Fall?«
Bjørn Holm glaubte hören zu können, dass sie lag. Ihre Stimme klang so entspannt und weich.
»René Kalsnes.«
Harry schloss die schwere Tür und sperrte die Morgendämmerung hinter sich aus.
Er ging durch das kühle Dunkel des Blockhauses in die Küche, ließ sich auf einen Stuhl fallen und knöpfte sich das Hemd auf. Es hatte gedauert.
Der Typ in der Militärjacke hatte ziemlich
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