Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
im Fieberwahn, während sein Körper gegen die Verletzungen ankämpfte, die Olegs Kugeln ihm zugefügt hatten. Oleg weinend, mit vor Drogenabstinenz zitterndem Körper. Auch damals waren nicht viele Worte zwischen ihnen gefallen, Harry erinnerte sich aber noch daran, dass sie sich zeitweise so fest an den Händen gehalten hatten, dass es schon weh tat. Und das Bild der beiden Menschen, der beiden Männer, die sich aneinanderklammerten und nie mehr loslassen wollten, würde ihn sein Leben lang begleiten.
Harry tippte I’ll be back und schickte die Antwort ab. Eine Zahl beantwortet mit drei Worten. Das reichte. Genug, um zu wissen, dass der andere da war. Es konnte Wochen dauern bis zum nächsten Lebenszeichen. Harry steckte sich die Ohrhörer wieder in die Ohren und spulte bis zu dem Song vor, den Oleg kommentarlos in seiner Dropbox deponiert hatte. Die Band hieß The Decemberists und war mehr Harry als Oleg, der härteren Stoff bevorzugte. Harry hörte eine einsame Fender-Gitarre mit dem reinen, warmen Klang eines simplen Röhrenverstärkers ohne feste Box. Wenn es nicht eine verräterisch gute Box war, dachte er und beugte sich über den nächsten Test. Der Student hatte geschrieben, dass die Zahl der Mordfälle in den Siebzigern plötzlich angestiegen sei, um sich danach auf dem neuen, höheren Niveau zu stabilisieren, und dass heute in Norwegen etwa fünfzig Menschen pro Jahr ermordet wurden, also etwa einer pro Woche.
Harry fiel auf, dass die Luft in seinem Büro ziemlich verbraucht war. Er sollte ein Fenster öffnen.
Der Student führte weiter aus, dass die Aufklärungsrate bei rund fünfundneunzig Prozent lag, und schloss daraus, dass es in den letzten zwanzig Jahren etwa fünfzig ungeklärte Mordfälle gegeben haben müsse. In dreißig Jahren also fünfundsiebzig.
»Fünfundachtzig.«
Harry zuckte auf seinem Stuhl zusammen. Die Stimme hatte sein Hirn eher erreicht als das Parfüm. Der Arzt hatte ihm zu erklären versucht, dass der Geruchssinn, genauer gesagt die olfaktorischen Zellen, durch das lange Rauchen und den Alkoholmissbrauch Schaden genommen hatten. Aber gerade dieses Parfüm konnte er selbstverständlich einordnen. Es hieß Opium, wurde von Yves Saint Laurent hergestellt und stand zu Hause im Bad im Holmenkollveien. Er riss sich die Ohrhörer heraus.
»Fünfundachtzig in den letzten dreißig Jahren«, sagte sie. Sie war geschminkt, trug ein rotes Kleid und hatte nackte Beine. »Aber die Statistik des Kriminalamts zählt die im Ausland ermordeten Norweger nicht mit. Um da einen Einblick zu erhalten, muss man die Auswertung des Statistischen Zentralbüros nutzen. Dann beläuft sich die Zahl auf zweiundsiebzig. Was bedeutet, dass die Aufklärungsrate in Norwegen höher ist. Der Polizeipräsident zieht diese Zahlen immer heran, um sich selbst zu loben.«
Harry schob seinen Stuhl von ihr weg. »Wie sind Sie hier reingekommen?«
»Ich bin die Sprecherin der Klasse, und die bekommen einen Schlüssel.« Silje Gravseng setzte sich auf den Rand des Schreibtisches. »Der Punkt ist aber, dass es sich bei der Mehrzahl der Morde im Ausland um Überfälle handelt, bei denen sich Täter und Opfer nicht kennen.« Harry registrierte sonnengebräunte Knie und Schenkel unter dem Kleidsaum. »Und bei dieser Art von Morden ist die Aufklärungsrate in Norwegen geringer als in vergleichbaren Ländern. Eigentlich erschreckend niedrig.« Sie hatte ihren Kopf zur Seite gelegt, und die feuchten blonden Haare fielen ihr vors Gesicht.
»Ach ja?«, sagte Harry.
»Ja. Es gibt nur vier Ermittler in Norwegen mit einer Aufklärungsrate von hundert Prozent. Und du bist einer davon …«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob das stimmt«, sagte Harry.
»Ich aber.« Sie lächelte ihn an und blinzelte, als wäre sie von der Abendsonne geblendet. Sie baumelte mit den nackten Füßen, als säße sie auf einem Steg.
»Was machen Sie so spät noch hier?«, fragte Harry.
»Ich habe unten im Kampfraum trainiert.« Sie zeigte auf den Rucksack auf dem Boden und winkelte ihren rechten Arm an. Ein langgestreckter, markanter Bizeps zeigte sich.
»So spät noch allein trainiert?«
»Ich will alles lernen, was ich wissen muss. Aber vielleicht kannst du mir ja zeigen, wie man einen Verdächtigen auf die Matte wirft?«
Harry sah auf seine Uhr. »Sagen Sie mal, sollten Sie nicht …«
»Schlafen? Aber ich kann nicht schlafen, Harry. Ich denke nur an …«
Er sah sie an. Sie machte einen Schmollmund und legte ihren Zeigefinger auf ihre
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