Koma
Er würde sich die Mühe machen und Walters aufsuchen. Es war der einzige und schnellste Weg, seine Unschuld in der Drogenaffäre zu beweisen. Die Entscheidung fiel ihm deshalb schwer, weil es für jemanden wie ihn unvorstellbar war, sich mitten am Tag aus dem Krankenhaus zu entfernen. Aber er hatte das unangenehme Gefühl, daß in den vergangenen achtundvierzig Stunden seine bis dahin so vielversprechende Arztkarriere bedenklich zu wackeln begonnen hatte. Aus seiner Sicht gab es zweierlei Bedrohungen: erstens die Drogen-Angelegenheit, aber die konnte im Grunde nicht allzu tragisch werden; denn er wußte ja, daß er damit nichts zu tun hatte, und es galt nur, diese Tatsache zu beweisen. Aber dann gab es noch die Sache mit Susan und ihrem sogenannten Projekt. Bellows hatte das dumpfe Gefühl, daß ihn aus dieser Richtung weit Unangenehmeres erwartete.
Es gelang ihm, seine Medizinstudenten Dr. Larry Beards Obhut anzuvertrauen, einem Enkel des legendären Mäzens, nach dem ein ganzer Flügel des Memorial benannt war. Nachdem er in der Zentrale Bescheid gesagt und seinen Piepser an den Gürtel gesteckt hatte, fand er schließlich auch einen jungen Kollegen, Norris, der für eine Stunde seine dienstlichen Verpflichtungen übernahm. Um 13 Uhr 37 stahl sich Bellows aus dem Krankenhaus und winkte ein Taxi heran.
»Stewart Street, in Roxbury? Irren Sie sich nicht?« Der Taxifahrer zeigte eine ungläubige, geradezu verächtliche Miene.
»Nummer 1833«, ergänzte Bellows.
»Na ja, ist ja Ihr Geld.«
Der Schnee war an die Straßenränder gekehrt worden; jetzt dampften die großen schmutzigen Haufen trübe im Regen, der noch genauso stark strömte wie am frühen Morgen, als Bellows zum Krankenhaus gegangen war. Auf der Route, die der Fahrer nahm, sah man kaum Menschen. Die trostlose Gegend weckte in Bellows das Gefühl, durch eine ausgestorbene Stadt der alten Mayas zu fahren. Man hatte den Eindruck, die Lebensumstände waren so untragbar geworden, daß die Bewohner einfach ihre Siebensachen gepackt, die Türen verriegelt und das Weite gesucht hatten.
Je tiefer das Taxi in den Straßendschungel von Roxbury eindrang, um so schlimmer wurde der Anblick. Die Fahrt ging zunächst vorbei an alten, in sich zusammenfallenden Lagerhäusern, dann durch moderne Slums. Das trübe Tauwetter, der gnadenlose Regen und der schmelzende Schnee machten alles noch trostloser. Schließlich bog das Taxi rechts ein. Bellows lehnte sich nach vorn und erhaschte einen Blick auf das Straßenschild: Stewart Street. Im selben Augenblick geriet das Taxi mit den Vorderrädern in ein mit Regenwasser gefülltes Schlagloch. Fluchend steuerte der Fahrer nach rechts, um den Hinterrädern das gleiche Schicksal zu ersparen, aber es war zu spät. Bellows flog mit dem Kopf gegen das Dach.
»Tut mir leid«, meinte der Fahrer grinsend. »Aber Sie wollten ja unbedingt in die Stewart Street.«
Bellows rieb sich den Schädel und musterte die Hausnummern: 1831, dann 1833. Er zahlte und stieg aus. Das Taxi raste davon und wedelte wie ein Slalomläufer zwischen den Schlaglöchern hindurch. An der nächsten Kreuzung verschwand es aus dem Blickfeld. Bellows fluchte leise: Warum hatte er den Fahrer nicht gebeten, auf ihn zu warten? Er sah sich um. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Am Straßenrand rosteten Autowracks vor sich hin, längst aller ihrer wertvolleren Teile beraubt. Gebrauchsfähige Wagen sah er nirgends, weder geparkt noch in Fahrt. Auch sonst gab es weit und breit kein Zeichen von Leben, keine Menschen, Hunde oder andere Geschöpfe. Als Bellows die Häuserzeile vor sich betrachtete, stellte er fest, daß alle Gebäude verlassen waren. Die meisten Fenster hatte man mit Brettern vernagelt, wo nicht, waren die Scheiben zersplittert. Ein kurzer Blick zeigte ihm, daß sich die ganze Gegend in einem ähnlichen Zustand befand.
An der Haustür von Nummer 1833 entdeckte er ein altes, schon halb verfaultes Schild. Darauf stand, dieses Gebäude sei Eigentum des Bostoner Dezernats für Wohnungsbau und zum Abbruch bestimmt. Das Datum lautete: 1971. Also handelte es sich hier um eines der vielen Stadtsanierungsprojekte, die dem Rotstift zum Opfer gefallen waren.
Bellows war verwirrt. Walters hatte kein Telefon, und alles sah danach aus, als hätte er seine Anschrift fingiert. Doch wenn er sich Walters und sein ganzes Gebaren vergegenwärtigte, erschien ihm das gar nicht so abwegig. Aus Neugier stieg Bellows die Treppe zur Haustür hinauf und las noch einmal die
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