Koma
in den Schacht hinab, indem sie den Rücken gegen die Betonwand drückte. Zentimeterweise schob sie sich nach unten, wie ein Bergsteiger beim Training.
Sie kam nur sehr langsam voran, versuchte vor allem, die Heißdampfleitungen zu meiden. Nach einer Weile konnte sie die Röhren voneinander unterscheiden. Dann erkannte sie im Dunkeln vage Konturen und nahm an, daß sie an der Hohldecke zwischen Ober- und Erdgeschoß angekommen war. Also machte sie Fortschritte, und ihr Triumphgefühl wurde nur durch die Einsicht gedämpft, daß der Schacht keineswegs eine Einbahnstraße war. Genausogut, wie sie hinunterkletterte, konnte von unten jemand heraufkommen. Ihr wurde nun auch klar, wie relativ leicht man sich Zugang zu dem T-Ventil an der Sauerstoffleitung im Memorial hatte verschaffen können.
Susan kletterte weiter abwärts. Von unten drang jetzt etwas mehr Licht zu ihr herauf. Außerdem hörte sie immer deutlicher das Geräusch elektrischer Motoren und Maschinen. Als sie sich dem Keller näherte, bemerkte sie zu ihrer Ernüchterung, daß es dort unten keine Doppeldecke gab, also keine Möglichkeit, ihren Weg unbeobachtet fortzusetzen. Doch Susan blieb nichts übrig, als weiterzuklettern, bis sie den Keller einsehen konnte.
Sie befand sich über dem Maschinenraum mit dem Generator. Die Szene wurde von ein paar Arbeitslampen erhellt. Susans Kletterstange, offensichtlich eine Wasserleitung, führte direkt weiter bis zum Boden. Aber mehrere andere Rohre, darunter auch größere und festere, bogen rechtwinklig ab und liefen, von Eisenträgern gehalten, knapp einen Meter fünfzig unter der Kellerdecke entlang, hoch über den Maschinen.
Mit größter Vorsicht stieg Susan auf eines dieser Rohre. Ihre Körperbeherrschung aufgrund ihrer tänzerischen Begabung kam ihr dabei zustatten. Den Kopf und die rechte Hand gegen die Betondecke gepreßt, bewegte sie sich langsam auf dem Rohr vorwärts. Den Blick hielt sie starr nach vorn gerichtet. Nur nicht hinuntersehen! befahl sie sich.
Nach anfänglichem Schwanken wurde sie immer sicherer. Ihr Selbstvertrauen wuchs, besonders als sie hinter einer Wand wieder eine ihrer wohlbekannten Hohldecken sah. Mit diesem Ziel vor Augen und indem sie sich an der Decke abstützte, gelang ihr der Seil- oder besser Röhrenakt. Der Weg führte sie genau über den Generator. Sie war keine anderthalb Meter mehr von der rettenden Zwischendecke entfernt, als ein Lichtstrahl sie fast aus dem Gleichgewicht brachte. Die Beleuchtung im Maschinensaal war angeschaltet worden.
Nach einem kurzen Blick nach unten schloß Susan die Augen, preßte die Hände fest gegen die Decke und drückte ihre Absätze gegen die Röhre. Unter ihr schlich ein Wächter langsam zwischen den Maschinen herum, eine große Taschenlampe in der einen, die Pistole in der anderen Hand.
Die folgende Viertelstunde war mit Sicherheit die längste in Susans Leben. In ihrer weißen Kleidung fühlte sie sich vor dem dunklen Hintergrund wie ein lebendiges Leuchtfeuer, und sie konnte nicht fassen, daß sie nicht sofort entdeckt wurde. Dabei suchte der Wächter mit aller Sorgfalt, spähte sogar in die kleinen Schränke unter der Werkbank. Doch nach oben sah er nicht. Zuerst begannen Susan die Arme zu zittern, so groß war die Anstrengung, sich aufrecht zu halten. Dann kroch das Zittern in die Beine, und Susan hatte Angst, ihre Schuhsohlen würden auf dem Metallrohr einen verräterischen Stepptanz beginnen. Aber der Wächter hatte endlich seinen Rundgang beendet, knipste die Deckenlampen aus und verschwand.
Susan konnte und wollte nicht gleich weiter. Sie versuchte, sich zu entkrampfen, ihr Schwindelgefühl zu überwinden. Das Ziel, die rettende Hängedecke in anderthalb Meter Entfernung, war ganz nah und zugleich unendlich weit. Am liebsten hätte sie eine Art Hechtsprung gewagt, aber sie hatte Angst, durch das Geräusch auf sich aufmerksam zu machen. Schließlich bewegte sie den rechten Fuß zehn Zentimeter vorwärts, zog den linken nach. Die Schmerzen in Händen und Beinen waren kaum noch zu ertragen. Aber es half nichts, sie durfte nicht aufgeben. Sie schob sich mit zusammengebissenen Zähnen Stück für Stück weiter, bis sie nach einer halben Ewigkeit die Zwischendecke erreichte. Dort ließ sie sich auf den Rücken fallen, rang nach Atem. Erst ganz allmählich wurden ihre Glieder wieder normal durchblutet.
Ihr war klar, daß sie sich keine längere Pause gönnen durfte. Sie mußte einen Weg aus dem Gebäude finden, nur die Flucht konnte
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