Koma
wußte: In den ersten beiden Jahren ihres Studiums hatte sie sich immer mehr als sexloses Wesen empfunden. Offensichtlich war sie zwar weiblichen Geschlechts, das zeigte schon ihre Periode, aber war sie auch eine Frau?
Susan starrte die nächste Treppe hinab. Die Ereignisse dieses Tages hatten sie zum erstenmal zur rationalen Auseinandersetzung mit einer Entwicklung gezwungen, die sie seit Jahren unbestimmt spürte. Wenn man nun statt ihrer Carpin für die Infusion gerufen und es sich anstelle von Berman um eine junge, attraktive Patientin gehandelt hätte, wie würde er dann reagiert haben? Genauso, nämlich als Mann? Doch der Gedanke erschien ihr zu hypothetisch. Und wahrscheinlich hätte er wirklich ebenso reagiert.
Susan nahm die nächsten Stufen in Angriff, aber sie ging jetzt sehr langsam. Und wenn es nun stimmte, daß ein Mann ähnlich reagiert hätte, warum machte sie von dem eigenen Verhalten dann soviel Aufhebens?
Susan spürte: Die Frage ging weit über das Thema Berufsethos hinaus. Berman hatte Susan ihr Frau-Sein bewußt gemacht. Und ihr ging auf, was des Pudels Kern war: Der größte Unterschied zwischen Carpin und ihr bestand darin, daß sie ein zusätzliches Hindernis überwinden mußte. Sie beide, das wußte sie, wollten Ärzte werden, wie Ärzte handeln, wie Ärzte denken und als Ärzte akzeptiert werden. Doch für Susan gab es noch eine Stufe mehr. Sie wollte Ärztin werden, aber auch eine Frau sein, als Frau fühlen, als Frau akzeptiert und respektiert werden. Schon bei der Aufnahme ihres Medizinstudiums war ihr bewußt gewesen, daß sie eine Laufbahn gewählt hatte, in der Männer dominierten. Sie hatte das sogar als besondere Herausforderung empfunden. Woran sie nicht gedacht hatte, das waren die menschlichen Probleme, die Schwierigkeit, im medizinischen Beruf auch als Frau Erfüllung zu finden. Akademisch konnte sie mithalten, da hegte sie kaum Zweifel. Doch der nächste Schritt würde schwieriger werden – sie wäre wie ein Schiff in unmarkierten Gewässern. Und Carpin? Für ihn bedeutete die gesellschaftliche Frage keinerlei Problem. Er war ein Mann in einer als männlich anerkannten Rolle. Der medizinische Beruf förderte sein Image als Mann. Carpin brauchte sich nur davon zu überzeugen, daß er als Arzt etwas taugte. Susan mußte sich davon überzeugen, daß sie den Anforderungen als Ärztin standhielt und eine Frau sein konnte.
Auf der Plattform des zweiten Stockwerks erblickte Susan ein Schild: »OP-Bereich. Unbefugten Zutritt verboten.« Es hätte der Warnung gar nicht bedurft. Die Tür vom Treppenhaus ins Krankenhausinnere war abgeschlossen. Für einen Augenblick kam sich Susan wie eine Gefangene vor, als hätte man alle Treppenhaustüren hinter ihr verriegelt. Dann nahm sie sich zusammen und sagte halblaut: »Miss Wheeler, jetzt hört der Unsinn auf!« Schnell lief sie eine Treppe weiter hinunter zum ersten Stock. Die Tür öffnete sich mühelos, und Susan fand sich im wirren Getriebe der Vorhalle.
Sie nahm den Lift und ging zur Intensivstation zurück. Es kostete sie Überwindung und auch körperliche Kraft, die Tür zu öffnen. Sie war massiv und schwer.
Wieder sah sich Susan in der unwirklichen Welt der Apparate und des gedämpften Lichts. Eine Schwester blickte kurz vom Pult auf, wandte sich aber gleich wieder ihrem EKG-Blatt zu. Als Susan mit den Augen den Raum absuchte, kam ihr von neuem die rein mechanische Beschaffenheit des »Lebens« hier zum Bewußtsein, das Fehlen menschlicher Stimmen, ja von Bewegungen, mit Ausnahme der elektronischen Piep-Funken auf den Monitoren. Und da lag Nancy Greenly, leblos wie eine Statue – medizinischer Unfall, Opfer der Technologie. Ihr Leben, ihre Lieben, alles vorbei, alles wegen einer simplen menstrualen Unregelmäßigkeit, eines kinderleichten Eingriffs.
Susan mußte sich zwingen, ihren Blick von Nancy Greenly abzuwenden. Sie stellte fest, daß die Gruppe die Intensivstation inzwischen verlassen hatte. Wahrscheinlich war sie bei der großen Visite. Susan merkte, wie unbehaglich sie sich in der Intensivstation fühlte. Alle Euphorie von vorhin, der Auftrieb wegen der gelungenen Infusion, war verflogen. Fast körperlich lasteten die psychologischen und technischen Absonderlichkeiten des Raumes auf ihr. Und dann kam ihr der Gedanke: Was nun, wenn bei einem der Patienten dort plötzlich in ihrer Anwesenheit etwas schiefging? Wenn sie, kraft ihres weißen Kittels und des nutzlosen Stethoskops in der Tasche, gezwungen war, eine
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