Koma
nachdem sie das Laken hochgezogen hatte, und versuchte es dort. Ebenfalls nichts. Sie war nicht einmal sicher, wo sie überhaupt klopfen mußte. Aus der Neuro-Anatomie erinnerte sie sich dunkel, daß der von ihr gesuchte Reflex aus einer plötzlichen Spannung der Sehne resultierte. Also streckte sie Nancy Greenlys Knie und klopfte unterhalb der Kniescheibe. Fast unmerklich zog sich der Oberschenkelmuskel zusammen. Susan versuchte es noch einmal. Der auf diese Weise erzeugte Reflex war kaum mehr als eine ganz leichte Muskelveränderung. Als nächstes nahm sich Susan das linke Bein vor – mit demselben Resultat. Nun stand für sie fest: Nancy Greenly hatte Reflexe, schwach, aber deutlich, und zwar symmetrische.
In ihrem Gedächtnis suchte Susan nach weiteren Ansatzpunkten neurologischer Untersuchungen. Ihr fiel die Bewußtseinsprobe ein. Aber in Nancy Greenlys Fall konnte wohl nur der Test des Schmerzempfindens Resultate bringen. Als sie die Patientin in die Achillessehne kniff, gab es keinerlei Reflex. Ob möglicherweise das Schmerzempfinden etwas näher am Hirn ausgeprägter war? Susan kniff die Patientin in den Oberschenkel und fuhr entsetzt zurück. Es kam ihr vor, als wollte Nancy Greenly aufstehen. Ihr Körper zuckte, versteifte sich, und die Arme streckten sich an den Seiten, verkrampften sich dann in einer halben Drehung. Der Unterkiefer bewegte sich, als wollte sie aufwachen. Doch das ging vorbei, und ebenso übergangslos verfiel Nancy Greenly wieder in den leblosen Zustand. Mit schreckgeweiteten Augen war Susan zurückgewichen. Sie hatte keine Ahnung, was sie getan und wie sie es vollbracht hatte. Sie wußte nur, daß sie sich in medizinische Bereiche vorgewagt hatte, für die ihre Fähigkeiten und ihre Erfahrung nicht ausreichten. Nancy Greenly hatte auf ihren letzten Versuch stärker reagiert, als es Susan lieb sein konnte, es sah fast wie eine Art Schlaganfall aus. Susan dankte den Sternen, daß es so schnell vorüber war.
Schuldbewußt sah sie sich im Raum um, ob jemand etwas gemerkt hatte. Zu ihrer Erleichterung achtete niemand auf sie. Aufatmend stellte sie außerdem fest, daß der Herzmonitor über dem Bett keinerlei Veränderungen zeigte: Der Leuchtpunkt zog ungestört seine Bahn.
Trotzdem war ihr nicht wohl. Sie hatte das Gefühl, Unrecht zu tun, Eindringling zu sein in einem Gehege, in dem sie nichts zu suchen hatte. Jeden Augenblick mußte die verdiente Strafe folgen. Doch hoffentlich nicht dergestalt, daß Nancy Greenly wieder einen Herzstillstand erlitt! Spontan faßte Susan den Entschluß, das Experimentieren an Patienten so lange sein zu lassen, bis sie sich mehr Kenntnisse angeeignet hatte. Für die Arbeit, die sie sich vorgenommen hatte, schien ihr zunächst einmal ernsthafte Lektüre wichtig.
Als sie zum Zentralpult ging, gab sie sich alle Mühe, unauffällig zu wirken. Die Krankenblätter waren in einem drehbaren stählernen Registerfach auf dem Pult abgelegt. Es quietschte entnervend, als Susan es vorsichtig in Bewegung setzte.
»Kann ich Ihnen helfen?« erklang eine Stimme hinter ihr. Es war June Shergood. Susans Hand fuhr zurück, als wäre sie ein Kind, das man mit der Keksdose erwischt hatte.
»Ich hätte nur gern das Krankenblatt.« Susan erwartete halb und halb eine Strafpredigt.
»Von wem?« erkundigte sich June Shergood freundlich.
»Nancy Greenly. Ich möchte mich mit dem Fall vertraut machen, damit ich bei ihrer Versorgung helfen kann.«
Die Schwester wühlte in den Unterlagen und brachte Nancy Greenlys Vorgang zum Vorschein. Sie lächelte Susan an und zeigte auf eine Tür. »Da drinnen können Sie sich besser konzentrieren.«
Susan bedankte sich und war froh, sich zurückziehen zu können. Die Tür führte in einen kleinen Nebenraum, dessen Wände mit Medizinschränken vollgestellt waren. An drei Seiten zog sich eine Art Theke in Sitzhöhe entlang. Rechts war eine Spüle, und in der Ecke stand die obligatorische Kaffeekanne.
Susan setzte sich. Obwohl Nancy Greenly noch keine zwei Wochen im Memorial lag, war ihr Krankenblatt sehr umfangreich, fast ein Aktendeckel voll Unterlagen. Das war bei Intensivfällen, die rund um die Uhr betreut werden mußten, nicht ungewöhnlich.
Susan holte die Reste ihres Lunchs, Sandwich und Milch, aus der Tasche und goß sich eine Tasse Kaffee ein. Dann entnahm sie dem soeben erworbenen Ringheft einige Blätter und fing mit der Arbeit an. Sie brauchte zunächst einige Zeit, um hinter das System der Krankenblätter zu kommen. Obenauf
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