Komm, dunkle Nacht
ergreifen zu können.
Aber welche? Für wen? Wo würde Rudzak als Nächstes zuschlagen?
»Ich habe schon auf deinen Anruf gewartet.« Galens Stimme war ungewöhnlich farblos und nüchtern. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass du nach Kai Chi gefahren bist.«
»Ich habe es nicht wahrhaben wollen. Ich habe an höhere Gewalt glauben wollen. Dabei habe ich Rudzak von Anfang an in Verdacht gehabt.«
»Und war er es?«
»Ja. Ich war auf dem Berg und fand einen von Chen Lis Kunstgegenständen und ein paar Sprengkapseln an der Stelle, wo der Erdrutsch begann. Jesus, und ich hatte gehofft, nichts zu finden. Doch als ich die Schlammlawine sah, wusste ich es. Es konnte kein Zufall sein. Alles passte zusammen. Grabbeigaben.«
»Grabbeigaben?«
»Den Pharaonen wurden die Schätze mit ins Grab gegeben, die ihnen im Leben teuer waren. Chen Li liebte ihre Sammlung.
Weil sie sie nicht mit ins Grab nehmen konnte, will er damit die Totenfeiern zu ihren Ehren schmücken.«
»Sind das Mutmaßungen?«
»Rudzak hat soeben bestätigt, was ich bisher nur vermutet hatte. Er hat diese abartige Vorstellung, dass all diese Menschen ein Tribut an Chen Li sind.«
»Deshalb hat er in Santo Camaro vier Menschen umgebracht und dort über fünfhundert?«
»In vielen alten Kulturen war es üblich, Bedienstete und Ehefrauen mit dem Herrscher zu begraben. Rudzak folgt nur ihrem Beispiel. Er sieht da keinen Unterschied und wenn, wäre es ihm egal.«
»Scheiße.«
»Mit Kai Chi habe ich nicht gerechnet. Ich habe nicht daran gedacht, dass er hier zuschlagen könnte. So einen Fehler möchte ich nicht noch mal machen.«
»Red keinen Blödsinn. Woher hättest du das wissen sollen?«
»Von jetzt an muss ich auf alles gefasst sein. Er hat mir erzählt, dass er noch acht Kunstgegenstände von Chen Li hat.«
»Deine Firmen?«
»Gut möglich.« Er dachte nach. »Und er hat Sarah erwähnt.«
»Wirst du ihr erzählen, wie es zu dem Erdrutsch gekommen ist?«
»Damit sie mich noch mehr verabscheut als jetzt schon?«
»Du bist nicht schuld daran.«
»Sag das noch mal. Ich brauche das, dass mir das jemand sagt.
Ruf mich sofort an, wenn dir etwas auch nur halbwegs Verdächtiges auffällt.« Er beendete das Gespräch.
Er legte sich wieder auf sein Feldbett. Er musste sich ausruhen, aber er bezweifelte, dass ihm das gelingen würde.
Wahrscheinlich hast du wach gelegen und in die Dunkelheit gestarrt. Das ist doch so, wenn man von Schuldgefühlen geplagt wird, habe ich Recht?
Genau das hatte er getan. Er hatte wach gelegen und über den nur wenige Schritte von seinem Zelt entfernten Sarkophag aus Schlamm nachgedacht. Hatte er Schuldgefühle? Verflucht noch mal, ja. Wenn er Rudzak im Gefängnis hätte umbringen lassen, wäre es nie zu diesem Massenmord gekommen. Mithin trug er einen Teil der Schuld und er fühlte sich, als läge der ganze Berghang auf seiner Brust.
Wie er auf dem Waisenhaus lag.
Er hatte dieses Waisenhaus im Laufe der Jahre häufig besucht und jedes Mal hatten die Nonnen die Kinder für ihn singen lassen.
Er schloss die Augen.
Er konnte sie fast wieder singen hören …
Schlamm.
Strömender Regen.
Tod.
Wie lange schon?
Zwei Tage? Drei?
Egal.
Sie musste weitermachen.
Monty hatte eine Witterung aufgenommen. Vielleicht war es ein Überlebender.
Unwahrscheinlich. Sie und Monty hatten nur sechs
Überlebende gefunden. Alle anderen waren schon tot gewesen.
Das musste nicht heißen, dass dieser hier schon tot sein würde.
Man durfte die Hoffnung nie aufgeben. Sonst würden diejenigen, die noch auf Hilfe warteten, vielleicht nie gefunden werden.
Sie stolperte auf der improvisierten Brücke über den Schlamm ihrem Hund hinterher.
Der Mann war nicht mehr am Leben. Der strömende Regen hatte ihn aus seinem Sarg aus Schlamm befreit, aber nicht rechtzeitig. Sein Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen.
Monty wimmerte. Zu viel. Bring ihn nach unten. Weg von all diesen Toten.
»Komm, Junge.« Sie pflanzte neben der Leiche einen Stab in den Schlamm und kennzeichnete ihn mit orangefarbenem Band, dann machte sie sich auf den Weg bergab.
Unten sah sie Logan, der mit einer Schaufel in der Hand zu ihr hinaufsah. Er war mit Schlamm bedeckt, wie alle
Rettungsarbeiter, die versuchten, die Trümmer des Dorfes aus dem Schlamm zu bergen. Er sollte nicht dort sein. In den letzten Tagen hatte sie ihn nur ab und zu gesehen, wie er sich im Sanitätszelt nützlich machte, den Hundeführern half und stundenlang mit den anderen Helfern
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