Komm, dunkle Nacht
rieb sich die Augen. »Sie hatte einen Rosenkranz in der Hand, Boyd. Sie muss den ergriffen haben, als das Beben anfing. Aber er hat ihr wohl nicht geholfen.«
»Ich fürchte, nicht.«
»Sie kann nicht älter als sechzehn gewesen sein und sie war schwanger.«
»Scheiße.«
»Ja.« Sie zog sanft an Montys Leine. »Wir sind bald zurück.«
»Du hörst mir offenbar nicht zu. Ich bin derjenige, der diese Suchaktion leitet, Sarah. Ich will, dass du dich ausruhst. Wir haben inzwischen wahrscheinlich alle Überlebenden gefunden.
Ich nehme an, dass wir morgen abberufen werden. Die Suche nach den Toten wird die russische Mannschaft zu Ende führen.«
»Gerade deshalb sollten wir umso härter arbeiten, bis wir den Befehl zum Abzug kriegen. Von den russischen Hunden hat keiner Montys Nase. Du weißt, wie gut er ist.«
»Du bist selbst sehr gut. Wusstest du, dass die anderen im Team darauf wetten, dass du Montys Gedanken lesen kannst?«
»Schwachsinn. Sie haben doch alle eine enge Beziehung zu ihren Hunden. Sie müssen doch wissen, dass man ein Tier verstehen lernt, wenn man mit ihm lebt.«
»Nicht wie du.«
»Was soll das Gerede? Es kommt doch nur darauf an, dass Monty einzigartig ist. Er hat noch Überlebende gefunden, wo alle anderen längst die Hoffnung aufgegeben hatten. Und er könnte auch heute noch welche finden.«
»Wahrscheinlich ist das nicht.«
Sie ging davon.
»Ich meine es ernst, Sarah.«
Sie sah sich über die Schulter nach ihm um: »Und seit wann hast du nicht mehr geschlafen, Boyd?«
»Das geht dich nichts an.«
»Mach, was ich sage, aber nicht, was ich mache? Ich bin in ein paar Stunden wieder da.« Sie hörte ihn hinter sich fluchen, während sie sich durch die Trümmer einen Weg den Hang hinab zu den Wohnwagen des Rettungsteams suchte, die am Fuße des Hügels aufgestellt worden waren. Boyd Medford war ein guter Kerl, ein ausgezeichneter Einsatzleiter, und was er sagte, hatte Sinn und Verstand. Aber es gab Zeiten, da sie nicht vernünftig sein konnte. Zu viele Tote. Zu wenig Überlebende. O Gott, viel zu viele Leichen …
Der Rosenkranz …
Hatte das arme Mädchen noch Zeit gehabt, für ihr Leben und das ihres Kindes zu beten, ehe sie zermalmt wurde?
Wahrscheinlich nicht. Im Bruchteil einer Sekunde konnte ein Erdbeben gewaltige Zerstörungen anrichten. Vielleicht sollte sie hoffen, dass der Tod schnell eingetreten war und das Mädchen nicht gelitten hatte. Monty drückte sich an ihre Beine. Traurig.
»Ich auch.« Sie öffnete Monty die Tür zum Wohnwagen. »Das kommt vor. Nächstes Mal wird es anders sein. Vielleicht.«
Traurig.
Sie füllte Montys Wasserschüssel. »Trink, Junge.«
Traurig. Er legte sich vor der Metallschüssel nieder. Er würde bald trinken, aber mit dem Füttern würde sie noch ein, zwei Stunden warten. Er war zu verstört zum Essen. Er hatte sich nie daran gewöhnen können, einen Toten zu finden.
Genauso wenig wie sie.
Sie setzte sich neben Monty auf den Boden und legte die Arme um ihn. »Es wird alles gut werden«, flüsterte sie.
»Vielleicht finden wir bald wieder einen lebendigen kleinen Jungen, wie gestern.«
War es gestern? Die Tage verschwammen ineinander, das war bei jeder Suchaktion so. »Erinnerst du dich an das Kind, Monty?«
Kind.
»Er lebt, dank dir. Deshalb müssen wir weitermachen. Wenn es auch wehtut.« Jesus, es tat wirklich weh. Es tat weh, Monty so verstört zu sehen. Der Gedanke an das Mädchen mit dem Rosenkranz in der Hand tat weh. Die Vorstellung, dass wahrscheinlich niemand mehr lebend geborgen werden würde, tat weh. Doch auch wenn es nicht wahrscheinlich war, es war nicht ausgeschlossen. Es gab immer Hoffnung, solange man die Suche nicht aufgab.
Sie schloss die Augen. Sie war müde und ihr taten alle Knochen weh. Na und? Bald würde sie die Zeit haben, sich auszuruhen. Fürs Erste brauchte sie nur ein paar Stunden Schlaf, dann konnte sie weitermachen.
»Los, machen wir ein Nickerchen.« Sie streckte sich neben ihrem Retriever aus. »Und dann werden wir sehen, ob wir in diesem Höllenloch nicht doch noch einen Überlebenden finden.«
Leise wimmernd legte Monty den Kopf auf die Pfoten.
»Schschsch.« Sie vergrub das Gesicht in seinem Fell.
»Ist ja gut.« Nichts war gut. Der Tod war nie gut. »Wir sind doch zusammen. Wir machen unsere Arbeit. Wir müssen nur noch die nächsten paar Tage überstehen, dann kehren wir zurück zur Ranch.« Sie begann, seinen Kopf zu streicheln. »Das wird dir gefallen, nicht wahr?«
Traurig.
Er
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