Komm mit mir nach Caracas
Besitzansprüche an ihn stellen, aber er glaubte, seine Frau gehörte ihm. Was Polly in diesem Moment allerdings am meisten zu schaffen machte, war die Erkenntnis, dass sie Raul aus der Fassung gebracht hatte. Warum, war ihr jedoch schleierhaft.
„Es liegt wohl am Jetlag." Nervös strich er sich durchs Haar. „Wenn du so eine Frau wärst, hätte ich dich niemals geheiratet."
Was für eine Frau? Eine Frau, die nicht treu sein konnte? Seltsam, dass ein Mann wie Raul so etwas sagte, denn allem Anschein nach war er ein echter Herzensbrecher, der über alle Attribute verfügte, die Frauen faszinierten - Persönlichkeit, gutes Aussehen, Sex-Appeal, Reichtum und Macht. Wie viele Frauen würden es wohl riskieren, ihn zu verlieren, indem sie ihn betrogen?
„Ich komme in einigen Tagen nach", sagte er ausdruckslos, als er an Polly vorbeiging.
„Du kommst nach?" wiederholte sie unsicher. „Wovon redest du? Wohin gehst du?"
„Heute Abend muss ich leider in Caracas bleiben. Morgen werde ich in Maracaibo sein und übermorgen vielleicht auch. Ich muss mich um einige dringende geschäftliche Angelegenheiten kümmern. Schließlich bin ich wochenlang im Ausland gewesen", erinnerte er sie trocken.
Als sie wieder allein war, machte Polly sich frisch und zog widerstrebend das weiße Kleid an. Als sie in die Hauptkabine zurückkehrte, war sie sich der verliebten Blicke bewusst, die Irena Raul zuwarf. Es war offensichtlich, dass Irena in ihn verknallt war, und möglicherweise war er weibliche Aufmerksamkeit so gewohnt, dass er es tatsächlich nicht gemerkt hatte.
„Okay, es gibt also ein Problem", sagte er leise und blickte zu Pollys Überraschung ironisch zu Irena, die gerade Luis' Sachen am anderen Ende der Kabine zusammenräumte. „Wir haben uns beide zu fünfzig Prozent geirrt, aber du kannst mir glauben, dass ich sie nie ermutigt habe."
Polly nickte verlegen, weil es ihr sehr peinlich war, dass sie so viel Aufhebens gemacht hatte.
Am Flughafen verabschiedete er sich höflich-kühl von ihr, und Irena brachte sie zu dem kleinen Flugzeug, das Luis und sie zur Ranch bringen sollte. Polly war sehr traurig.
Würde es ihr mit Raul immer so ergehen? Würde sie ihn niemals richtig kennen lernen? Würde sie nie begreifen, was in ihm vorging? Und war das mit den dringenden geschäftlichen Angelegenheiten nur ein Vorwand gewesen, um sie loszuwerden? Der Gedanke, dass Raul ursprünglich vorgehabt hatte, sie zu seiner Ranch zu begleiten, bis sie ihm diese Szene gemacht hatte, war furchtbar! Denn hatte er ihr nicht deutlich gesagt, dass Eifersucht ihn anwiderte und nichts sie ihm schneller entfremden würde?
Als Polly aus dem Flugzeug stieg, goss es in Strömen, und der Pilot brachte sie und Luis mit einem großen Regenschirm zu einem Landrover, der auf dem Flugfeld wartete. Offenbar sprachen weder er noch der Fahrer Englisch. Ihre Schuldgefühle Raul gegenüber waren heftigem Zorn gewichen. Was glaubte er, wie ihr zu Mute war, wenn sie allein auf der estancia eintraf, wo niemand sie kannte und sich vermutlich auch niemand mit ihr verständigen konnte?
Durch die nassen Fenster konnte sie zahlreiche von Palmen umgebene Gebäude erkennen. Trotz des heftigen Niederschlags war es sehr schwül. Ein grässliches Loch, befand sie. Raul hatte Luis und sie hierher abgeschoben und lebte einfach sein gewohntes Leben weiter ...
Schließlich kam ein Wohngebäude im Kolonialstil mit einer kunstvoll gefertigten Veranda und einem Balkon im oberen Stockwerk in Sicht. Mit Luis auf dem Arm, sprang Polly aus dem Wagen, nachdem der Fahrer ihr die Tür geöffnet hatte, und lief durch den strömenden Regen ins Haus, in dem es angenehm kühl war.
In der Eingangshalle blieb sie stehen und blickte sich um. Erst dann bemerkte sie die zahlreichen weiblichen Hausangestellten, die hinter der Tür standen und Luis und sie erstaunt betrachteten.
Dann kam eine große, sehr attraktive Blondine auf sie zu. Sie musterte sie stirnrunzelnd und sagte etwas auf Spanisch zu ihr.
„Tut mir Leid, ich spreche kein ...", begann Polly.
„Ich bin die Condesa Melina D'Agnolo. Wo ist Raul?" erkundigte sich die Blondine. Ihr Englisch war nicht akzentfrei, aber perfekt.
„Noch in Caracas." Während sie Melina D'Agnolo fragend anblickte, sah Polly aus den Augenwinkeln, wie die Angestellten durch eine Tür zur Linken fluchtartig die Halle verließen. Melina D'Agnolo, die ein sehr elegantes kirschrotes Kostüm und funkelnde Juwelen trug und eine typische Vertreterin der High
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