Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
ist niemand zu sehen. Oben steht sie wieder vor einer verschlossenen Tür. Diesmal hat sie wenig Mühe; der Schlüssel lässt sich einführen und drehen. Im Handumdrehen ist sie in der Wohnung. Sie bleibt an der Tür stehen und lauscht angestrengt. Bereit, jederzeit loszurennen: zur Tür hinaus, die Treppe hinunter, auf die Straße. Hinaus in den normalen, hellen Tag mit dem blauen See, dem Sonnenschein und den überfüllten Spielplätzen. Hinaus in die echte, sichere Welt, wo niemand einen Schlüssel klaut, um in eine fremde Wohnung einzubrechen. Wo allein die Vorstellung abwegig ist, jemand könnte ein Kind verschleppen, um ihm Böses anzutun. So etwas passiert weit weg und anderen Leuten.
Sie könnte umkehren. In aller Ruhe die Treppe hinunter und aus dem Haus spazieren. Die Türen endgültig hinter sich schließen, die Schlüssel zurückbringen. Niemand würde je davon erfahren, niemand käme zu Schaden, und heute Abend könnte sie sich verabschieden, sich ins Auto setzen und in ihr altes Leben zurückkehren. Ihr Leben.
Langsam lässt das schmerzvolle Herzklopfen nach, und Stephanie bekommt wieder Luft. Sie steht in einem großen, luftigen, in einem neutralen Hellbeige gestrichenen Zimmer. Am hinteren Ende befindet sich die Küche, Barhocker unter einem Tresen aus dunklem Resopal, an den Wänden Schränke mit Holzfurnier. Von dem Raum gehen zwei Türen ab. Stephanie entdeckt ein schwarzes Ledersofa, einen breiten Sofatisch aus dunklem Holz, einen Flachbildfernseher und eine Stereoanlage auf einem angedübelten Regalbrett. Die Sonne scheint herein. Der Balkon ist teilweise verglast, und draußen steht ein Wäscheständer mit Klamotten. Sportbekleidung, Shorts, T-Shirts, Socken, Handtücher.
Alles wirkt sehr funktional. Keine Bücher, Fotos oder Pflanzen, nichts steht herum, die Wände sind nackt. Ein Ort, an dem nur gegessen und geschlafen wird.
Ein Ort, den man jederzeit und innerhalb von einer Stunde verlassen kann.
Stephanie steht noch immer an der Tür, sie sieht sich um und lauscht konzentriert, kann aber nichts anderes hören als fernen Autoverkehr und das leise Tuckern eines Bootsmotors draußen auf dem See. Langsam bewegt sie sich durch die Wohnung, leise, ganz leise. Auf dem Sofatisch liegt seine Post. Sie blättert in den Umschlägen; Werbung, Telefon- und Stromrechnung. Nichts Privates. Sie schaut in alle Schubladen und Küchenschränke. Überall nur Gebrauchsgegenstände; Töpfe, Schüsseln, Messer, Teller, Gabeln. Keine Unordnung, kein Krimskrams, alles ist sauber und an seinem Platz. Alle Teller passen zusammen, dasselbe gilt fürs Besteck. Die Töpfe scheinen ganz neu zu sein, ebenso die Schüsseln und die Mikrowelle. Es ist, als wäre er ohne alles hier angekommen und direkt zum Baumarkt gegangen, um sich neu einzurichten. Stephanie lässt ihre Hand über das Sofa gleiten. Ebenfalls neu, keine Risse, keine Kratzer.
Das Badezimmer. Eine Dusche, ein Handwaschbecken. Auch hier ist alles aufgeräumt und makellos sauber. Nichts liegt herum, alles ist an seinem Platz. Zahnbürste, Zahnpasta. Seife, Duschgel und Shampoo stehen in einem Metallkorb in der Dusche. Sie öffnet den Badezimmerschrank. Rasierzeug, Paracetamol.
Nichts. Was ist hinter der zweiten Tür?
Das Schlafzimmer ist riesig. Ein Bett, eine Kommode, am hinteren Ende ein Schreibisch, auf dem ein Laptop steht. Der Einbauschrank nimmt eine komplette Wand ein. Sie öffnet die Türen; seine Kleider beanspruchen nur ein Viertel des Platzes. Pullover, Jeans, Hemden. Ein Regal mit Schuhen. Alles sieht neu aus, nagelneu.
Ist das seine Masche? Zieht er durchs Land und fängt überall bei null an? Neue Klamotten, neues Leben, neuer Name? Ihr fällt ein, dass die Empfangsdame ihn Edward genannt hat. Für Beth war er Ward. Warum denkt er sich nicht einen neuen Namen aus, nimmt eine neue Identität an?
Weil er innerhalb des gesellschaftlichen Systems bleiben muss. Er ist auf Zeugnisse und Arbeitsnachweise angewiesen, um an eine neue Stelle zu kommen. Und er braucht einen Job, der ihm Autorität verleiht und ihn vertrauenswürdig erscheinen lässt. Außerdem liebt er vielleicht das Spiel mit dem Feuer; vielleicht findet er die Möglichkeit, enttarnt zu werden, aufregend.
Vielleicht ist er aus genau diesem Grund nach Wanaka zurückgekehrt, wo man sich an ihn erinnert und wo er nicht von vorn anfangen kann. Das Risiko ist hier größer. Vielleicht war es ihm zu einfach geworden, oder er ist so überheblich zu denken, niemand könne ihm etwas
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