Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
gebracht haben, als hasse er alles.
Es ist Samstag. Stephanie liegt auf dem Sofa, im Fernsehen läuft eine Quizshow. Sie schaut sich jede Quizsendung an, denn sie hat festgestellt, dass das Nachdenken über die Fragen Raum in ihrem Kopf einnimmt und damit das Nachdenken über Gemma Gemma Gemma unterbrochen wird. Sie fragt sich gerade, wie viele Bundesstaaten der USA mit einem »S« anfangen, als sie einen irren, hohen Jaulton aus Gemmas Zimmer hört. Sie springt auf und rennt durchs Haus.
Man hat sie gefunden, und sie ist tot.
Minna krümmt sich halb liegend, halb kniend auf dem Kinderzimmerboden und presst sich Gemmas bestes Kleid an die Brust, Tante Bella hat es aus Sydney mitgebracht, weiß mit roten Elefanten am Saum und Knöpfen am Rücken, die an winzige Regentropfen erinnern.
»Sie wollte es zum Picknick anziehen. Warum habe ich es ihr nicht erlaubt? Warum nicht?«
Dave kniet neben Minna, zupft am Kleid, versucht es Minna wegzunehmen. Er schlingt seine Arme um Minna und weint. Große Schluchzer schütteln ihn, sie entweichen ruckartig und breiten sich einer nach dem anderen im Zimmer aus. In Gemmas Zimmer. Gemmas Zimmer mit dem zitronengelben Vorhang mit kleinen weißen Pünktchen und der farblich abgestimmten Tagesdecke. Gemmas Kinderzimmer mit dem Puppenherd, den Büchern und den Barbies und dem Mobile mit rosa Schmetterlingen, die anmutig und wie in Zeitlupe in der lauen Brise baumeln.
Gemmas Kinderzimmer mit der Maus auf dem Bett.
5.
J eden Morgen um sechs Uhr treffen sich alle, die für die Suche alt und fit genug sind, im Gemeindezentrum. Auf der riesigen Landkarte an der Wand sind die bereits abgesuchten Areale vermerkt. Man hat die am See gelegenen Grundstücke engmaschig durchkämmt und sich vom flachen Ufer über die Steine zu den Hügeln hinaufgearbeitet, wo Kiefern und Grasbüschel wachsen. Spät am Abend, wenn die Suche abgebrochen wird, kehren die Freiwilligen in der Dämmerung zurück. Sie riechen nach Schweiß und nach Thymian, gehen langsam, blicken verbissen drein.
Weil die örtliche Polizeiwache zu klein ist, haben die Ermittler sich in der Kantine des Gemeindezentrums eingerichtet und den Raum in eine Einsatzzentrale umfunktioniert. Am Ende jedes Tages versammeln sie sich dort, um zu besprechen, was sie wissen, was sie herausgefunden haben. Sie drehen und wenden alles hin und her, auf der Suche nach der Spur, die zu Gemma führt. Wobei sie inzwischen nach einer Leiche suchen. Tag acht. Die Chance, sie jetzt noch lebendig zu finden, geht gegen null.
Sie ist weg. Hat sich in Luft aufgelöst. Nichts wurde gefunden, keine Kleidungsstücke, keine Schuhe, keine Barbiepuppe, nichts. Niemand hat etwas gesehen. Es war ein ganz normaler Schulausflug. Die Andersons sind eine ganz normale Familie, eine Familie wie alle anderen auch; relativ zufrieden, relativ wohlhabend, mit netten Kindern. Normal. Absolut normal. Niemand kann sich erinnern, Gemma gesehen zu haben, nachdem ihre Brüder sie auf dem Rasen am Kiefernwälchen stehen ließen. Vorausgesetzt, man schenkt den Aussagen Glauben. Entweder sagt irgendjemand nicht die Wahrheit, oder die Polizei stellt den falschen Leuten die falschen Fragen. Denn irgendetwas muss passiert sein. Irgendjemand muss etwas wissen.
Am Ende des Abends sind Matt Hayes und Chris Warwick allein. Sie spüren den Druck. Zwei Entscheidungen stehen an: Wo suchen wir als Nächstes? Wann brechen wir die Suche ab? Eine brodelnde Gefühlswelle schwappt durchs Land. In den Talkshows wird über nichts anderes gesprochen. Letztes Jahr war es die kleine Teresa Cormack. Der Täter wurde nie gefunden. Diesmal finden sie nicht einmal eine Leiche.
Sie ist in den Nachrichten, jeden Abend, zur besten Sendezeit. Gemma Anderson. Gemma Marie Anderson. Da ist sie, ihr Gesicht füllt den Bildschirm aus, das hübsche kleine Mädchen, dessen dichter, glänzender Pony über den riesigen dunklen Augen so akkurat geschnitten ist, dass man gleich sieht, dieses Kind wurde geliebt und verhätschelt. Dieses süße, vertrauensselige Lächeln. Du liebe Güte. Wenn ihr so etwas zustoßen konnte, dann könnte es jedem Kind zustoßen, sogar dem eigenen. Gestern Abend war Sophie Patterson im Fernsehen, ihre Mutter saß dicht hinter ihr, während ihr die Tränen übers Gesicht kullerten. Gemma ist meine Freundin, bitte sagen Sie uns, wo sie ist.
Rührend. Aber wie soll das weiterhelfen? Das verkommene Schwein, das sich an Kindern vergreift, wird sich von ein paar Tränen nicht beeindrucken lassen.
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