Komm stirb mit mir: Thriller (German Edition)
Zeugenaussagen gab, kein naheliegendes Motiv und keine Hinweise, dass er am Tatort gewesen war, hatte man ihn schließlich von der Liste der Verdächtigen gestrichen.
Keine Anhaltspunkte für irgendwelche Unregelmäßigkeiten waren gefunden worden. Marion war entweder durch einen Unfall zu Tode gestürzt, was in Anbetracht der hohen Wände des Parkhauses unwahrscheinlich war, oder sie hatte Selbstmord begangen. Auch wenn man keinen Abschiedsbrief gefunden hatte, leuchtete ihm ein, warum am Ende alle von einem Selbstmord ausgegangen waren. Man hatte sich an die Aussagen von Spears Mutter und einer Mitbewohnerin gehalten, die beide erklärt hatten, Marion sei unglücklich gewesen und habe Schwierigkeiten gehabt, in London Freunde zu finden. Niemand war über diese Erklärung hinausgegangen und hatte sich gefragt, ob eine einsame junge Frau wie Marion nicht auch leicht jemandem zum Opfer fallen konnte, der ihr übel wollte.
Er musste an das Foto von Marion in der Akte denken und fragte sich, ob er Recht hatte. Sie war attraktiv gewesen, das nette, harmlose Mädchen von nebenan. Für ihre dreißig Jahre hatte sie jung ausgesehen, mit schulterlangem dunkelblonden Haar und einem verträumten, süßen Blick in den Augen. Vielleicht interpretierte er zu viel hinein, aber für ihn sah sie traurig aus. Sie musste Verehrer gehabt haben, bestimmt hatte sich jemand für sie interessiert. Aber den Aussagen zufolge war Marion für sich geblieben und nur selten ausgegangen. Kennedy war im Irrtum, wenn er behauptete, sie passe nicht ins Opferprofil. Auch wenn Marion Spear sehr viel älter war als Gemma, Ellie und Laura, auch wenn sie anders ums Leben gekommen war, es gab da einen gemeinsamen Nenner. Sie alle waren einsam und ausgegrenzt gewesen, alle auf verschiedene Art verletzlich. Hatte Marion Toms Aufmerksamkeit auf sich gezogen?
Der Buchladen, in dem Angel arbeitete, lag in der Mitte der Geschäftszeile gegenüber dem Ealing Green, wenige Häuser von der Tapas-Bar entfernt, in der Tartaglia und Kennedy am Vortag zu Mittag gegessen hatten. Zwischen einem fröhlich bunten Bioladen und einem schicken französischen Café wirkte er fehl am Platze; die Ladenfront war mit mehreren ungleichmäßigen Schichten altmodischen schwarzen Lacks gestrichen, über dem Schaufenster prankte in verblassten goldenen Lettern der Name »Soane Antiquarian Books«.
Tartaglia warf einen kurzen Blick auf die ausgestellten Second-Hand-Bücher über Architektur und Kunstgeschichte hinter dem teilweise beschlagenen Schaufenster, dann drückte er gegen die Tür. Sie war verschlossen. Dem Schild hinter der Scheibe war zu entnehmen, dass der Laden erst in einer halben Stunde öffnen würde. Aber im hinteren Teil des düsteren Raums konnte er Licht und eine Person sehen. Nachdem er mehrmals erfolglos geklingelt hatte, klopfte er laut an die Tür. Eine Minute später tauchte ein groß gewachsener, schlaksiger Mann aus dem Dunkeln auf. Er musterte Tartaglia misstrauisch, zeigte auf das Schild und sagte in Zeitlupe und mit übertriebenen Lippenbewegungen, als spräche er mit einem Idioten: »Wir haben geschlossen«. Tartaglia antwortete mit »Polizei« und hielt seinen Dienstausweis an die Scheibe. Der Mann zögerte, anscheinend überlegte er, was jetzt zu tun sei, dann schloss er gemächlich auf, öffnete die Tür ein paar Zentimeter und betrachtete den Dienstausweis durch den Türspalt.
»Was wollen Sie?«, fragte er.
»Sind Sie Harry Angel?«
Der Mann zögerte erneut, dann nickte er.
»Ich bin Detective Inspector Mark Tartaglia. Kann ich reinkommen? Sie wollen doch sicherlich nicht, dass wir uns auf dem Gehweg unterhalten.«
Mit genervtem Blick riss Angel die Tür auf und ließ ihn herein, die kleine Türglocke klingelte wütend.
Drinnen war es eng und kaum wärmer als draußen, an den dunkelrot gestrichenen Wänden standen Bücherregale mit Hardcovern, manche in Leder gebunden. Im Hintergrund lief irgendeine schrille moderne Oper, und es roch nach frisch gebrühtem Kaffee.
»Worum geht’s?«, fragte Angel, die Hände in die Hüften gestemmt. Er war ein gutes Stück größer als Tartaglia, mindestens einsachtzig, seine großen Füße steckten in ausgelatschten Samtpuschen mit goldenem Emblem vorne drauf. Er trug ausgewaschene Jeans und einen weiten grünen Pullover, und er war älter, als er auf Anhieb wirkte, Ende dreißig oder Anfang vierzig vielleicht. Sein Gesicht war blass und markant, die dunkle, schwungvolle Mähne rötlich braun. Seine
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