Komm und küss mich!: Roman (German Edition)
Auge sah sie Francesca in einen Swimmingpool springen und nicht wieder auftauchen; von einem Skilift abstürzen; sich die Muskeln beim Balletttraining zerreißen; ihr Gesicht durch einen Fahrradunfall entstellt. Es gelang ihr nicht, die schreckliche Angst abzuschütteln, irgend etwas könnte ihre Tochter heimsuchen, das außer ihrer Kontrolle lag. Daher wollte sie Francesca in Watte packen und auf einer rosaroten Wolke allem Unheil fernhalten.
»Nein!« kreischte sie, wenn Francesca hinter einer Taube herrannte. »Komm zurück! Renn nicht so!«
»Aber es macht mir Spaß!« protestierte Francesca. »Dann pfeift mir der Wind so schön in den Ohren.«
Chloe kniete nieder und streckte die Arme aus. »Vom Rennen zerzaust dein Haar, und dein Gesicht wird ganz rot. Wenn du nicht hübsch bist, mag dich keiner mehr.« Mit dieser schrecklichen Drohung drückte sie Francesca fest an sich, so wie andere Mütter ihren Kindern mit dem schwarzen Mann drohen.
Manchmal lehnte sich Francesca dagegen auf. Dann übte sie heimlich Radschlagen oder ließ sich von einem Ast schaukeln, wenn das Kindermädchen einmal nicht hinsah. Aber immer
wurde sie dabei ertappt, und ihre vergnügungssüchtige Mutter, die ihr nie einen Wunsch abschlug, sie auch für außerordentlich ungezogenes Betragen nie zurechtwies, versetzte mit ihrer maßlosen Aufregung das arme Kind in Angst und Schrecken.
»Du könntest tot sein!« schrie sie in solchen Situationen und deutete auf einen Grasfleck auf Francescas gelbem Leinenrock oder auf Dreck in ihrem Gesicht. »Wie häßlich du aussiehst! Wie furchtbar! Keiner mag häßliche kleine Mädchen!« Und dann weinte Chloe so herzzerreißend, daß Francesca es mit der Angst zu tun bekam. Nach mehreren erschütternden Vorfällen dieser Art hatte Francesca ihre Lektion gelernt: Alles war im Leben erlaubt … solange man gut dabei aussah.
Die beiden konnten sich ein elegantes Bohemeleben leisten, teils von den Zinsen aus Chloes Erbschaft, teils von der Großzügigkeit einer ganzen Schar von Männern, die durch Chloes Leben zogen, so wie ihre Väter durch Nitas Leben gezogen waren. Chloes ausgesprochener Modesinn und ihre Extravaganzen festigten ihren Ruf als amüsante Gesellschafterin und höchst unterhaltsamer Gast in Kreisen der internationalen High-Society. Man konnte sich immer darauf verlassen, daß Chloes Anwesenheit einem noch so banalen Anlaß den richtigen Glanz verlieh. Es war Chloe, die es aufbrachte, daß man mindestens zwei Wochen im Februar auf dem Strand von Copacabana verleben mußte; es war Chloe, die in Deauville alle wieder in Schwung brachte, wenn man allgemein des Polospiels überdrüssig war. Sie organisierte raffinierte Schatzsuchen: Alle rasten dann in schnittigen Wagen durch die französische Landschaft, auf der Jagd nach glatzköpfigen Mönchen, ungeschliffenen Smaragden oder einer perfekt temperierten Flasche Cheval Blanc des Jahrgangs 1919. Und Chloe war es auch, die durchsetzte, daß man Weihnachten nicht mehr in Sankt Moritz, sondern in einem maurischen Dorf an der Algarve
feierte, wo man sich stilvoll von wunderbar verdorbenen Rockstars unterhalten ließ und in rauhen Zügen Haschisch genoß.
Meistens brachte Chloe ihre Tochter mit, Kindermädchen und Privatlehrer im Schlepptau. Tagsüber hielten diese Aufpasser Francesca von den Erwachsenen fern, aber abends führte Chloe ihren Jet-set-Freunden das Kind gern vor, als ob es sich um einen Taschenspielertrick handelte.
»Hier ist sie, liebe Leute!« verkündete Chloe einmal, als sie Francesca auf das Achterdeck der Christina führte. Onassis’ Jacht lag in Trinidad vor Anker. Der geräumige Salon am Heck des Schiffes war mit einem grünen Baldachin überspannt; die Gäste erholten sich auf bequemen Sesseln am Rande einer Reproduktion des Minotaurus, die als Mosaik in den Teakholzboden eingelassen war. Das Mosaik hatte knapp eine Stunde zuvor als Tanzfläche gedient und würde später um drei Meter gesenkt und mit Wasser gefüllt werden. So konnte sich, wer Lust hatte, vor dem Zubettgehen mit einem Bad erfrischen.
»Komm her, meine hübsche kleine Prinzessin!« sagte Onassis und streckte ihr die Arme entgegen. »Gib Onkel Ari einen Kuß!«
Francesca rieb sich den Schlaf aus den Augen und tat ein paar Schritte auf ihn zu. Obwohl sie erst neun Jahre alt und um zwei Uhr morgens geweckt worden war, kam sie allmählich zu sich. Den ganzen Tag über hatte man sie den Dienstboten überlassen, jetzt nutzte sie willig die dargebotene Chance,
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