Komm und küss mich!: Roman (German Edition)
Manschetten. Danach
führten die Schwestern sie zu einem Rollstuhl und legten ihr das verstoßene Kindlein in den Arm. Nun hatte sich dessen äußere Erscheinung in der Zwischenzeit nicht wesentlich verbessert, aber als Chloe das kleine Bündel in ihrem Arm sah, erlebte sie einen für sie typischen blitzschnellen Stimmungsumschwung. Sie schaute in das fleckige Gesicht und verkündete vor Gott und der Welt, auch in der dritten Generation sei die Schönheit der Serritellas gesichert. Niemand war so taktlos zu widersprechen, was sich später auch als gut herausstellte. Innerhalb von wenigen Monaten sollte sich Chloes Prophezeiung erfüllen.
Chloes Empfindlichkeit, was weibliche Schönheit betraf, wurzelte in ihrer eigenen Kindheit. Als kleines Mädchen war sie ein richtiger Pummel gewesen, mit einem unübersehbaren Speckring um die Taille und ein paar Pausbäckchen, die die Konturen ihrer feinen Gesichtszüge nicht zur Geltung kommen ließen. In den Augen der anderen galt sie zwar nicht als unförmig; aber rundlich, wie sie einmal war, fühlte sie sich durch und durch häßlich, besonders im Kontrast zu ihrer mondänen, modisch-eleganten Mutter, Nita Serritella. Sie war Italienerin von Geburt und eine der ganz Großen in der Welt der Haute Couture. Erst 1947, als Chloe schon zwölf war, sagten alle, sie sei schön.
Sie hatte mehr Zeit in Schweizer Internaten zugebracht, als für ein Kind gut war. Im Sommer 1947 verbrachte sie ein paar Ferientage zu Hause. Sie drückte sich möglichst unauffällig in dem eleganten Salon ihrer Mutter herum, der in der Rue de la Paix gelegen war. Voller Neid und Widerwillen beobachtete sie Nita, gertenschlank im schlichten schwarzen Kostüm mit übergroßem himbeerfarbenem Satinrevers, die sich mit einer elegant gekleideten Kundin unterhielt. Ihre Mutter trug das blauschwarze Haar kurz und gerade geschnitten. Es fiel ihr in einer großen Welle über die linke Hälfte ihres blassen Gesichts. Den überlangen Hals, der einem Gemälde von Modigliani
nachempfunden schien, zierten mehrere Reihen ebenmäßiger schwarzer Perlen. Diese Perlenkette und noch eine Reihe anderer Schmuckstücke, die sie in einem kleinen Wandsafe im Schlafzimmer aufbewahrte, waren Geschenke ihrer Bewunderer – international erfolgreicher Männer, die mit dem größten Vergnügen einer Frau Juwelen zu Füßen legten, die sie sich ebensogut aus eigenem Vermögen hätte kaufen können. Einer davon war Chloes Vater, obwohl Nita behauptete, sich nicht zu entsinnen, wer es war. Und natürlich hatte sie keinen Augenblick an Heirat gedacht.
Die attraktive Blondine, der Nitas ganze Aufmerksamkeit galt, sprach spanisch. Gemessen an dem Interesse der Weltöffentlichkeit, das diese Stimme in jenem Sommer des Jahres 1947 auf sich zog, klang sie reichlich vulgär. Chloe verfolgte das Gespräch nur mit halbem Ohr, nebenbei sah sie den superschlanken Mannequins zu, die Nitas neueste Modelle vorführten. Warum war sie nicht so dünn und selbstbewußt wie diese Mannequins? Warum war sie nicht so wie ihre Mutter? Sie hatte doch die gleichen grünen Augen, das gleiche schwarze Haar. Wenn ich doch schön wäre! dachte Chloe. Dann würde die Mutter sie nicht mehr verabscheuen. Wohl an die hundertmal hatte sie sich geschworen, weniger zu essen, und genausooft hatte sie mangels Willenskraft resigniert. Neben Nitas überragendem Durchsetzungsvermögen fühlte sich Chloe wie ein schwankendes Rohr im Wind.
Die Blondine schaute plötzlich von einer Zeichnung auf und ließ die wäßrigen braunen Augen auf Chloe ruhen. In ihrem seltsam harten Spanisch sagte sie: »Die Kleine wird noch eine wahre Schönheit. Sie sieht Ihnen sehr ähnlich.«
Mit kaum verhohlener Geringschätzung sah Nita zu Chloe hinüber. »Ich sehe nicht die geringste Ähnlichkeit, Señora. Und solange sie nicht lernt, ihr Eßbesteck einmal wegzuschieben, wird es nichts mit der Schönheit!«
Nitas Kundin hob eine Hand, schwer beladen mit protzigen
Ringen, und winkte Chloe heran. »Komm, querida, gib Evita einen Kuß!«
Chloe reagierte nicht spontan, sie dachte über das Gesagte nach. Dann erhob sie sich zögernd von ihrem Stuhl und durchquerte den Salon. Sie schämte sich ihrer strammen Waden, die unter dem Saum ihres Sommerkleides hervorsahen. Sie beugte sich über die Frau und drückte einen schüchternen, aber dankbaren Kuß auf die leicht parfümierte Wange der Evita Perón.
»Faschistenhexe!« zischte Nita Serritella, als die First Lady von Argentinien zur Tür hinaus
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