Komm wieder zurück: Roman
scheint.
Sie fühlt sich benommen und klein, ein Insekt, das auf dem Rücken liegt, als sie sich einen Weg durch das ganze Gewimmel bahnt, bis sich das Chaos allmählich in Reihen schäbiger Wohnblöcke auflöst, an deren weißen Ziegelfassaden dicke bunte Lichter hängen. Die Dächer zieren Plastikweihnachtsmänner auf Schlitten. Ab und zu ein kleines Schindelhaus, ein Angelladen und ein Minimarkt, und dann kommen Designervillen auf großen Grundstücken, gruppiert um künstliche Seen, in deren hohen Fenstern ganz winzige weiße Lichtlein blinken.
Der Freeway speit sie endlich nach Osten in die kleine Waldstadt Blue Springs aus. Eine ländliche weiße Kirche, inmitten von Tannen. Muss sich gar nicht anstrengen, ein friedliches Weihnachtskartenmotiv abzugeben.
Im zweiten Stock eines Hauses im Neokolonialstil bewohnt Onkel Calder ein Apartment, das er schon vor Annies Geburt besessen hat. Ihre Reifen knirschen in der kurzen Kiesauffahrt. Fastein Jahr war sie schon nicht mehr hier. Darauf ist sie nicht stolz. Sie denkt an all das, was passiert ist, als sie klein war. Es sollte egal sein, ist es auch. Schon seit Jahren.
Der Eingang zu Onkel Calders Wohnung liegt im Freien. Eine Holztreppe führt hinauf, und dort sieht sie ihn fast ganz oben, in einer blauen Baseballjacke und -mütze. Er schleppt einen exklusiven roten Rollator die Stufen hinauf. Einmal verliert er beinahe das Gleichgewicht. Er lässt ihn kurz los, um Halt zu finden, und einen Augenblick lang sieht es so aus, als würde er sich zu Tode stürzen. Doch dann umklammert sein Arm wieder die Stange des Rollators.
Annie springt aus dem Wagen, und wieder versetzt ihr die Luft einen Schock. Der Wind treibt sie vor sich her, bläst ihr den langen Mantel von hinten an die Beine. Die silbrigen Wolken hängen tief und dick wie Decken, die am Himmel drapiert sind. Ihr Onkel scheint direkt unter ihnen zu stehen. Bei dem Anblick muss sie beinahe weinen. So viele Erinnerungen sind in ihm archiviert, eine Familienbibliothek, deren Seiten schneller aufflattern, als sie sich abwenden kann. Sie schließt die Wagentür und bewegt sich schwerfällig vorwärts.
»Hallo!«, ruft sie.
Anscheinend hört er es nicht. Sie steigt hinter ihm die Treppe hoch und ruft seinen Namen, bis er sich endlich umdreht, den Griff um den Rollator lockert und dann wieder fest zupackt, als er sie sieht.
»Mensch!« Er starrt sie an. »Verdammt! Ich dachte schon, du würdest warten, bis ich aufgebahrt bin, bevor du mich wiedersiehst.«
»Onkel Calder.«
»Was gibts denn, Spatz?«
Sie packt eines der hinteren Räder des Rollators. Er ist schwerer als erwartet, und gemeinsam gehen sie weiter bis zum Treppenabsatz, wo sie den Rollator geräuschvoll abstellen.
»Ich komme gerade vom Frühstücken. Du bist aber schnell hierhergekommen.« Die Haut an seinen Wangen hängt schlaff herunter. Seine Augen haben das tiefe Blau der Afghan-Decke ihrerMutter. Dunkler als in ihrer Erinnerung. Auf ihren Rändern glitzert Feuchtigkeit im Schein der Eingangslampe.
»Was machst du denn mit diesem Ding?«, fragt sie.
Er ist immer noch breitschultrig und hält sich gerade. Er lüpft seine Mütze mit einer Hand, während er sich mit der anderen das volle graue Haupthaar glatt streicht. Der Wind bläst ihm schnell das Haar wieder nach vorn, und einen Moment lang kämpft er dagegen an, bevor er sich die Mütze auf den Kopf drückt. »Die Leute bezahlen mich dafür, dass ich den ausprobiere. Sie nennen das einen Rollator, Premium 3 Deluxe Edition mit stahlverstärktem Rahmen. Er hat leichte herausziehbare Einkaufskörbe.«
»Du brauchst das Ding wohl gar nicht, wenn du es die ganzen Stufen hochträgst.«
»Das ist wegen der Schuhe.«
Sie sieht auf seine weißen Laufschuhe hinunter. »Wie meinst du das?«, fragt sie, aber er ist schon beim nächsten Thema.
»Hast du eine Ahnung, wie alt ich bin?«, fragt er.
Trotz der Altersflecken und der papiernen Blässe seiner Haut wirkt er nicht wie ein alter Mann. Er hat nichts von dieser hölzernen, zittrigen Gestik alter Leute. Seine Stimme ist glatt und klar. »Ich weiß, dass du dich nicht deinem Alter gemäß benimmst«, sagt sie.
Er lächelt und tätschelt mit seiner Riesenpranke sanft ihre Wange. Dann beugt er sich über seinen Gehwagen hinweg und umarmt sie. »Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher«, sagt er.
Die Erwähnung ihrer Mutter und ein Hauch von Zigarre haben zu viele Dinge aufgerührt, und als er sie wieder loslässt, stehen ihr Tränen in den
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