Komm wieder zurück: Roman
Augen.
In der dunklen Wohnung wird ein künstliches Bäumchen von einer viel zu langen Girlande aus blinkenden blauen Lichtern erdrückt, die für einen größeren Baum gedacht ist. Annie erkennt den gleichen Baumschmuck, den ihre Mutter hat – längliche elektrische Kerzen, Lametta, und ganz oben blitzt eine goldene Christbaumspitze. Die Luft ist kühler als erwartet. Sie riecht nach Onkel Calder. Nach Staub und abgestandenem Zigarrenrauch,und außerdem riecht es köstlich nach etwas Fettem, das kürzlich gebraten wurde. Vermutlich wurden die Fenster eine ganze Weile nicht geöffnet.
Onkel Calder knipst einen Schalter an der Wand an, und ein Deckenventilator erhellt das Zimmer. Die Flügel beginnen sich zu drehen. Er zieht zweimal an der Ventilatorkordel, und die Blätter kommen langsam zum Stillstand. Dann sagt er, er wisse nie so genau, wie er das eine ohne das andere einschalten soll.
Das Wohnzimmer ist aufgeräumt, Zeitungen liegen in einem quadratischen Stapel auf dem Couchtisch aus Ahornholz. Calders Foto ist von einer Schale mit Erdnüssen verdeckt. Zwei Paar weiße Tennisschuhe stehen neben der Tür. Onkel Calders Purple Heart liegt auf dem Kästchen unter der Lampe auf dem kleinen Tisch, und sie stellt sich vor, dass er auf dem Sofa sitzt, es in Händen hält und seinen Erinnerungen nachhängt. Als Kind war sie das erste Mal auf das Satinkästchen gestoßen. Die Mutter hatte ihr befohlen, es sofort wieder zurückzustellen. »Das ist kein Spielzeug«, hatte sie geflüstert. Doch so sah es aus, wie lila und goldener Schmuck für ein Mädchen. Ihre Mutter tat so, als wäre es mehr wert als alles andere im Haus. Erst Jahre später fand Annie einen Zeitungsausschnitt unter den Sachen ihres Vaters über Onkel Calders Schiff im Pazifik. Von Tausenden Matrosen überlebten nur mehrere hundert einen Torpedoangriff der Japaner. Onkel Calder war tagelang im eiskalten und haiverseuchten Wasser getrieben und hatte seiner Rettung geharrt. Viele Menschen hatten bei der Explosion Verbrennungen an Armen und Beinen erlitten, Onkel Calder war einer von ihnen. Der Mund aufgedunsen von Salzwassergeschwüren. In der Dämmerung dann die Schreie, erst einer, dann noch einer und wieder einer, und die, die noch übrig waren, wussten, dass die Haie gerade einen Mann zerfleischten. Onkel Calders Wille blieb ungebrochen. Er verlor nicht den Verstand wie manche anderen, die sich einbildeten, frischen Kaffee zu riechen und unter die Oberfläche schwammen, um ihn zu suchen. Vier Tage lang blieb er auf der Hut und seine Blicke glitten blitzschnell über das trübe Wasser, um jede Zickzackbewegung zwischen den schwimmendenTrümmern wahrzunehmen. Zweimal ratschte er einem Hai mit seinen wundgescheuerten, geschwollenen Knöcheln die Nase auf, zweimal rettete er nicht nur sich selbst, sondern auch noch einen anderen Seemann. Annie erinnert sich, wie sehr sie das Bild ihres sanften Onkels und noch mehr die Tatsache verwirrte, dass er für die Rettung eines Menschen ein billiges Schmuckstück bekommen hatte, einen herzförmigen goldenen Talisman an einem hübschen violetten Band, von dem sie früher einmal angenommen hatte, dass er einem Mädchen gehörte.
»Schmeckt der Kaffee noch?« Onkel Calder bleibt im Kücheneingang stehen. »Ich bin total durchgefroren.«
Links vom Türeingang hängt ein gerahmtes Poster von Ronald Reagan mit Cowboyhut. Eine Hand ist an seiner Hüfte erstarrt, die andere liegt auf einer Pistole im Holster. Onkel Calders Kopf ist jetzt auf gleicher Höhe mit dem von Ronald Reagan, und ihr fällt prompt eine Ähnlichkeit auf. Sie legt Halstuch und Handschuhe ab, lässt aber den Mantel an und steckt die Hände in die geräumigen Taschen.
»Kaffee wäre schön.« Sie setzt sich in einen hölzernen Schaukelstuhl mit blauen Kissen, die an den Sprossen befestigt sind. Sie fixiert den toten grauen Fernsehapparat. »Ich hab dich das bestimmt schon mal gefragt, aber warum wohnst du hier oben? Warum vermietest du das hier nicht und wohnst unten?«
Onkel Calder macht sich in der Küche zu schaffen, und erst als er endlich mit zwei Tassen schwarzem Pulverkaffee ins Wohnzimmer tritt, merkt sie, dass er gehört hat, was sie gesagt hat. Er reicht ihr eine Tasse, und als sie diese annimmt, öffnet und schließt er seine leere Faust, als wäre sie kalt oder arthritisch. Schrammen überziehen den Handrücken. »Treppensteigen ist ein gutes Training.« Lächelnd setzt er sich ans Ende des Sofas in ihrer Nähe. »Außerdem gefällt
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