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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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an den Grund abgewetzt hat – dann ist ein Bruchteil der ersten Sekunde der Ewigkeit vergangen .
    Das war mir im Gedächtnis geblieben, und ich erinnerte mich wieder daran, während ich schläfrig den Wellen lauschte, die gegen die schwarzen Felsen am Fuß von Cliff House brandeten. Wie viele Jahrtausende müssten wohl vergehen, bis diese Felsen verschwunden waren? Bis dahin wären Cliff House und die Menschen, die dort gelebt hatten, längst vergessen. Brighton Island wäre wahrscheinlich längst von Wind und Wellen fortgespült worden. Ob es dann noch ein Festland geben würde, auf dem Menschen lebten? Wenn ja, was wären das für Menschen? Solche wie wir – oder eine ganz neue Zivilisation, die Dads Romanen entsprungen sein könnte? »Der Bruchteil einer Sekunde … im Verhältnis zur Ewigkeit …«
    Mein Bewusstsein schwappte am Rand des Schlafes dahin, und ich war im Begriff, hinüberzugleiten und in den Wellen zu versinken, als Helen meinen Namen sagte.
    Â»Laurie«, sagte sie, »was machst du da?«
    Sofort riss ich die Augen auf und blinzelte heftig in die Dunkelheit.
    Â»Was?«
    Â»Bitte, lass das! Sieh mich nicht so an! Was soll das?«
    Â»Helen«, sagte ich, »wach auf! Du träumst.«
    Ich tastete nach der Nachttischlampe, und dann fiel mir ein, dass die ja auf der anderen Seite des Zimmers stand, also stand ich auf, ging zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Helen saß kerzengerade im Bett. Sie hob den Arm schützend vors Gesicht, weil das Licht so grell war, senkte ihn aber wieder und richtete den Blick auf mich.
    Â»Da drüben stehst du«, stellte sie fest.
    Â»Ich musste aufstehen, sonst wäre ich nicht an den Lichtschalter gekommen.«
    Â»Du warst aber auf der Luftmatratze?«
    Â»Natürlich. Was dachtest du denn, wo ich bin?« Ich ging zum Bett, setzte mich auf die Bettkante und nahm ihre Hand. Sie zitterte. »Du hattest einen Albtraum.«
    Â»Nein, hatte ich nicht«, sagte Helen. »Ich war hellwach. Ich war eingeschlafen, aber dann strich etwas über meine Wange. Ich hab die Augen aufgemacht und da warst du. Du hast neben dem Bett gestanden. Du hast auf mich runtergeschaut, und du hast so seltsam geguckt … total anders, überhaupt nicht wie du.«
    Â»Ich hab mich nicht vom Fußboden weggerührt«, sagte ich. »Erst als du mich gerufen hast.«
    Â»Aber ich hab dich gesehen!«
    Â»Wie denn?«, fragte ich, denn ich wollte vernünftig an die Sache rangehen. Trotzdem musste ich gegen das Zittern in meiner Stimme ankämpfen »Heute ist Neumond. Es war völlig finster.«
    Â»Aber da war Licht … irgendwie … das muss Licht gewesen sein. Es war … es schien irgendwie von drinnen zu kommen … aber das kann nicht sein, oder?« Helen umklammerte meine Hand ganz fest. »Das warst du nicht, Laurie. Hier war ein Mädchen, und sie sah genauso aus wie du. Jedenfalls … äußerlich. Sie hatte deine Gesichtszüge, deine Haare, aber ihre Augen …« Sie brach den Satz ab und schüttelte den Kopf wie besessen. Ihr rotes Haar flog hin und her. »Das warst du nicht … das war jemand anders.«
    Â»Ein Albtraum«, wiederholte ich zaghaft, aber wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Das Mädchen aus dem Spiegel war hier gewesen, und Helen hatte sie gesehen, nicht als Schatten, als wesenslose Stimme in der Dunkelheit, sondern in meiner Gestalt.
    Â»Ihre Augen?«, flüsterte ich. »Was war mit ihren Augen?«
    Â»Das hat mir solche Angst gemacht«, sagte Helen mit erstickter Stimme. »Ich hätte nicht so einen Schreck bekommen, wenn ich in deinem Haus aufgewacht wäre und du an meinem Bett gestanden hättest. Das wäre ja ganz normal gewesen. Manchmal steht man nachts auf, stolpert ins Badezimmer und geht im Halbschlaf zurück ins gewohnte Bett. Nein, das war es nicht. Diese Augen haben mich total erschreckt. Das waren böse Augen, Laurie, einfach nur böse! Als das Mädchen auf mich runterschaute, hatte ich nur einen Gedanken: Dieser Mensch wird mich umbringen!«

SECHS
    IN DEN NÄCHSTEN WOCHEN sprachen wir über den Vorfall, zuerst auf diese zittrige, unbeholfene Art, in der man ein gefürchtetes Thema angeht, und später, als wir Abstand gewonnen hatten, objektiver. Wer konnte das Mädchen gewesen sein? Wie hatte sie ins Zimmer kommen und so schnell wieder verschwinden

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