Komm zu mir, Schwester!
Häuptlings verheiratet.«
Also erklärte Mrs Hastings sich einverstanden, ein Zuhause für die Babys zu suchen. Sie erwartete noch in derselben Woche den Besuch eines Paares aus New York, ein Schriftsteller, dessen Frau Kunstmalerin war. In ihrem Heimatstaat erfüllten die beiden nicht die Voraussetzungen für eine Adoption, deshalb wollten sie im Südwesten ein Kind adoptieren. Vielleicht könnte man sie überreden, die Zwillinge zu nehmen.
Aber dieses Paar beschloss, nur eins der Babys zu adoptieren.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Mrs Hastings zur Mutter. »Zuerst war ich mir sicher, dass sie beide nehmen würden. Aber dann, nachdem die Frau beide Babys im Arm gehalten hatte, schien sie ihre Meinung geändert zu haben.«
Monate vergingen, und es fand sich keine Familie, die den zweiten Zwilling adoptieren wollte. Die Mutter forderte also ihre winzige Tochter zurück und machte sich daran, sie allein groà zu ziehen.«
»Wo hast du gewohnt?«, fragte ich Lia.
»In einer billigen Unterkunft nach der anderen.«
»Und wie habt ihr gelebt? Hat dein Vater Geld für den Unterhalt geschickt?«
»Nicht, dass ich wüsste. Unsere Mutter hat als Putzfrau gearbeitet.«
»Wie Mrs DeWitt?« Die dickliche Edna DeWitt kam donnerstags immer aus dem Dorf zu uns und putzte die Fenster, die Böden und die Bäder in Cliff House. Für Mom war sie »das Beste, das uns seit der Erfindung des Teebeutels passiert ist«.
»Wer?« Lia schien nicht zu wissen, wen ich meinte.
»Die Frau, die für uns sauber macht«, erklärte ich. Für mich war es immer ganz selbstverständlich gewesen, dass Mrs DeWitt ihren Lebensunterhalt mit dem Saubermachen von Häusern verdiente, aber es war auch ziemlich schwer, sie sich als Frau eines Häuptlingssohnes vorzustellen. Eine Frau mit so einem Titel sollte ganz bestimmt nicht auf den Knien bei anderen Leuten die Kloschüsseln schrubben.
»Sie hat mich immer mitgenommen in all diese wunderschönen Häuser«, erzählte Lia, »und am Ende des Tages sind wir dann wieder in unsere Wohnung zurückgekehrt. Wir haben gegessen und uns schlafen gelegt. Etwas anderes konnten wir abends nicht machen.« Sie erinnerte sich noch daran, wie im Sommer das Licht noch stundenlang, nachdem sie ins Bett gegangen war, durch die Ritzen in den Jalousien ins Zimmer gefallen war. Die Hitze lastete auf dem Raum und ihr Kissen war schweiÃnass gewesen. An der Decke einer Wohnung, in der sie gewohnt hatten, hatte es einen Ventilator gegeben. Der hatte sich langsam gedreht und die Hitze in trägen Wellen vor sich hergetrieben. Lia lag dann auf dem Rücken und verfolgte die rotierenden Blätter mit den Augen. Die Wellen spülten über sie hinweg, und sie stellte sich dabei immer vor, sie wären grün und kühl wie das Meer.
»Hattest du das Meer schon mal gesehen?«
»Nein, aber unsere Mutter. Sie hat mir davon erzählt. Sie war oft dort gewesen und hatte gesucht.«
»Wonach denn?«
»Nach unserem Vater natürlich«, sagte Lia. War sie gereizt, weil ich so dumm war â oder war es etwas anderes? Ich spürte ihre Wut, wusste aber nicht, warum sie wütend war. »Sie hatte geschworen, an seiner Seite zu bleiben.«
»Aber wie konnte sie das tun, wenn sie für dich gesorgt hat und jeden Tag arbeiten musste?«
»Nachts. Sie legte sich dann auf das Bett auf der anderen Seite des Zimmers und dann ist sie ⦠weggegangen.«
»Oh.« Auf einmal begriff ich es. »So wie du hierherkommst.«
»Zuerst habe ich sie immer atmen hören, langsam und schwer«, sagte Lia. »Dann wurde es immer ganz still. Es geschah. Sie war weg. Manchmal habe ich das Licht neben ihrem Bett angemacht und auf ihre Hülle hinuntergeschaut. Wie sie dagelegen hat, so schön und ruhig. Ihre Brust hat sich nicht bewegt. Ich habe ihr oft die Finger unter die Nase gelegt, und ich konnte nicht spüren, wie sie atmete.
Wenn ich morgens aufwachte, war sie wieder da. Sie machte uns Frühstück, und beim Essen erzählte sie mir, wo sie gewesen war.«
»Wo ging sie hin?« Ich konnte fühlen, wie die kleine Lia so schrecklich allein am Bett unserer Mutter gestanden hatte.
»Normalerweise nach Kalifornien«, sagte Lia. »Der Händler hatte ihr erzählt, wie gern er dort hinwollte. Indianischer Schmuck war an der Küste gefragt, und die Leute hatten das
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