Komm zu mir, Schwester!
ich zusammenkamen, konnte ich anfangs nur an ihn denken. Wenn ich morgens aufstand, hatte ich seinen Namen auf den Lippen ⦠»Gordon, Gordon, heute treffe ich mich mit Gordon!« Und abends beim Einschlafen sah ich sein Bild vor mir, auch wenn ich die Augen schon geschlossen hatte. Jetzt war es Lias Gesicht â mein eigenes Gesicht â, das mein Bewusstsein vereinnahmte. Wenn ich meine Erfahrung beschreiben soll, würde ich sagen: In gewisser Weise verliebte ich mich in mich selbst.
Was habe ich gedacht und gefühlt, letztes Jahr im Novem ber, an diesen langen Abenden, an denen ich hier gesessen habe â mit Lia, meiner Schwester? Ich kann mich an die Di nge erinnern, die gesprochen wurden, aber nicht an die Stimmen. Ich kann mich genau und bildlich an ihre Gegenwart erinnern, den Schwung ihrer Lippen, ihre Kopfhaltung, wie still sie war. Aber habe ich sie mit meinen Augen gesehen oder mit meiner Vorstellung? Stand sie in Wahrheit dort am Fenster, oder war ihr Anblick eine Illusion, etwas, das ich gesehen habe, weil ich es unbedingt sehen wollte?
Das frage ich jetzt, denn wenn ich zurückdenke, kommt es mir so vor, als ob manchmal das Licht in meinem Zimmer gar nicht angeschaltet war. Und trotzdem habe ich sie gesehen.
»Erzähl mir was von unserer Mutter«, sagte ich.
»Sie war schön«, sagte Lia. »Sehr schlank, mit langen schwarzen Haaren und Augen, die so ruhig wirkten. Und sie hat nie gelächelt.«
»Warum nicht?«
»Weil das Leben grausam zu ihr war«, sagte Lia, und dann erzählte sie mir die Geschichte, die traurig und nicht fassbar war, wie eine Art Märchen aus einer anderen Zeit, weit, weit weg. An ihre Worte erinnere ich mich nicht mehr, doch an die Geschichte erinnere ich mich genau.
Es war einmal ein junges Navajo-Mädchen, erzählte Lia, und sie war so hübsch, dass alle Männer in ihrem Dorf sie heiraten wollten, und mit dreizehn Jahren wurde sie dem Sohn des Häuptlings zur Frau gegeben. Ohne je ihre Jugend erlebt zu haben, war sie also zur Ehefrau geworden. Dann kam eines Tages, als sie siebzehn war â so alt wie wir jetzt â ein Händler mit einem Lieferwagen durchs Dorf, der Türkis- und Silberschmuck aufkaufte. Er war gut aussehend und von heller Hautfarbe. Sein Haar sah aus wie der Sonnenschein. Das Mädchen warf einen Blick auf ihn und verliebte sich schrecklich. Er bat sie, doch mit ihm zu kommen. Sie sagte ihm, das sei unmöglich. Aber plötzlich, als sie begriff, dass er das Dorf wirklich verlassen würde, kletterte sie zu ihm in die Fahrerkabine und fuhr mit ihm davon, dabei lieà sie alles, was sie besaÃ, im Haus ihres Ehemannes zurück.
»Jetzt gehöre ich dir«, sagte sie zu dem Händler. »Ich werde dich lieben und an deiner Seite bleiben bis zum Tag meines Todes.«
Aber der Händler war ein Mann, der das lockere Leben und willige Mädchen gewöhnt war, und nach ein paar Monaten mit dem jungen Navajo-Mädchen wurde er sie leid.
»Geh zurück zu deinen Leuten«, sagte er. »Da gehörst du hin.«
»Das kann ich nicht«, sagte das Mädchen. »Mein Mann würde mich niemals wieder aufnehmen. Abgesehen davon werde ich dir ein Kind gebären.«
»Das ist dein Problem, nicht meines«, sagte der Händler.
Sie hielt das für einen Scherz. Doch an diesem Abend kam er nicht wieder zu ihr nach Hause zurück. Drei Tage lang saà sie in ihrer gemeinsamen Wohnung und wartete, bis sie endlich einsehen musste, dass er sie verlassen hatte. In der obersten Schublade seiner Kommode fand sie einen Umschlag mit Geld und einen Zettel, auf dem geschrieben stand, dass sie das Baby zur Adoption freigeben sollte. Beigefügt war die Adresse von der Hastings Agentur.
Aus dem Baby wurde schlieÃlich das Zwillingspaar mit den feinen Zügen des Händlers. Die beiden kleinen Mädchen hatten hellere Haut als ihre Mutter, aber Haare und Augen hatten sie von ihr geerbt. Die junge Mutter folgte der Anweisung auf dem Zettel und brachte die Kinder zur Agentur.
»Wird deine Familie dir denn nicht helfen, die Kinder aufzuziehen?«, fragte die Leiterin der Agentur, Mrs Hastings. »Die Navajo kümmern sich immer um ihre eigenen Leute.«
Das Mädchen erklärte ihr, dass sie mit Kindern von einem anderen Mann nicht ins Reservat zurückkehren könne.
»Die Leute würden mich vertreiben«, sagte sie. »Ich bin mit dem Sohn des
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