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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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drüber.
    Es war Crystal, Tommy Burbanks Date auf der Halloweenparty der Schule. Wenn ich mich recht erinnerte, war sie eine Klassenstufe unter uns – klein, blond und gackerig. Sie gackerte auch jetzt, und sie schaute mit plinkernden Augen zu Gordon auf, der ihr das nicht schwer machte, weil er sich nämlich über sie beugte. Langsam schlenderten die beiden den Pier entlang, sie hielten sich an den Händen, ließen die Arme hin und her schwingen – und zogen keine zwei Meter weiter an mir vorbei, ohne mich zu bemerken.
    Na denn … tschüss, Gordon.
    Was würde wohl passieren, wenn ich ihm hinterherriefe? Würde der Klang meiner Stimme ihre Verbindung sprengen? Würde Gordon herumwirbeln, auf mich zulaufen und mich begrüßen, stammelnd und mit hochrotem Gesicht?
    Â»Laurie! Ich hab dich gar nicht gesehen. Das ist Crystal, das weißt du doch noch? Sie hat beim Training zugeschaut, und sie hat ihre Handschuhe vergessen, und da wollte ich nur …«
    Nein, das passte nicht zu Gordon. Schuldgefühle kannte er nicht.
    Â»Sieh mal, Laurie«, würde er zu seiner Verteidigung sagen , »du hast dich in letzter Zeit so seltsam benommen, dass ich mir dachte, es macht dir nicht viel aus, wenn ich mir eine andere suche, mit der ich meine Zeit verbringe. Jetzt bist du frei und kannst dich voll auf das konzentrieren, was dich in letzter Zeit so beschäftigt.«
    Da ich die Worte schon in meinem Kopf gehört hatte, empfand ich nicht das Bedürfnis, sie auch noch laut ausgesprochen zu hören. Deshalb blieb ich einfach stehen, ganz ruhig, und sah zu, wie Gordon und Crystal gemeinsam davongingen. Ich war ganz erstaunt, wie wenig ich dabei empfand. Eigentlich hätte mich das doch verletzen müssen, oder nicht? Meine erste Liebe gehörte mir nicht mehr. Wut wäre da doch eine ganz natürliche Reaktion gewesen.
    Tschüss, Gordon. Ich musste mich verabschieden von den grünen Augen, die mir immer gesagt hatten, wie hübsch ich doch sei, und von den sonnengebleichten Haaren, die sich immer so warm angefühlt hatten. Und von dem Mund, von dem ich das Küssen gelernt hatte.
    Warum weinte ich also nicht? Warum fühlte ich gar nichts? Gerade eben noch hatte ich mich nach Gordon gesehnt – und ich war zum Anleger gegangen, um ihn abzuholen. Was hatte ich erwartet? Dass ich die Zeit zurückdrehen konnte? Dass ich wieder der Mensch sein konnte, der ich nicht mehr war?
    Als der letzte der Passagiere den Pier hinaufkam, ging ich neben ihm her.
    Â»Das wird ein kalter Winter«, sagte der Mann, als ein eisiger Wind übers Wasser heranfegte.
    Â»Da haben Sie sicher recht«, pflichtete ich ihm bei.
    Ich bog auf der Beach Road nach Norden ab, und als die Dünen mich vor dem Wind schützten, ließ die Kälte nicht nach, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, seltsamerweise wurde sie noch stärker. Eigentlich hätte ich zittern müssen, aber ich zitterte nicht. Anscheinend war ich ein Teil der Kälte geworden, und deshalb konnte ich nicht auf sie reagieren. Eis im Eis. Ein Gefühl der Taubheit, das bis zu der Leere in meinem tiefsten Inneren reichte.
    Dann endlich bemerkte ich, dass ich nicht mehr allein war.
    Sie war neben mir. Lia.
    Schweigend gingen wir nebeneinander her, wir beide, Schulter an Schulter, während die Nacht rasch und undurchdringlich über uns hereinbrach wie immer im Winter. Ich schaute sie erst an, als wir Cliff House beinahe erreicht hatten. Es genügte mir schon zu wissen, dass sie da war.
    Als das Haus hinter der Kurve in Sichtweite kam, drehte ich mich zu ihr.
    Â»Hallo«, sagte ich.
    Â»Hallo.« Sie schaute mich feierlich an. Diese Augen, ernst und fragend, waren die Augen in meinem eigenen vertrauten Gesicht. Meine eigene Stimme drang leise durch das Halbdunkel zu mir. »Bist du bereit?«
    Â»Ich hab gewartet und gewartet«, sagte ich anklagend.
    Â»Ich weiß, aber du warst noch nicht bereit. Jetzt bist du es.«
    Wir gingen den Pfad hinauf und betraten Cliff House zusammen. Und wir blieben zusammen.

NEUN
    WIR SIND DIE ZWEI SEITEN EINER Münze. Lia und ich.
    Wenn ich sage, wir blieben zusammen, meine ich damit natürlich nicht, dass sie Tag und Nacht jeden Augenblick da war. Sie existierte noch auf einer anderen Ebene, über die sie sich weigerte, Auskunft zu geben. Sie kam und ging, doch sogar wenn ich allein war, spürte ich ihre Anwesenheit. Nun war sie von meinen Träumen in

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