Komm zu mir, Schwester!
Aber langsam glaubte ich auch, dass es einer war.
»Laurie â¦Â« Er wirkte jetzt wacher. »Einmal, als wir von der Schule nach Hause fuhren, war es kalt und dein Haar wehte im Wind. Ich hatte den Arm auf die Sitzlehne gelegt. Beinahe hätte ich ihn um dich geschlungen. Aber dann dachte ich, nein, hier versuche ich es nicht. Es muss dunkel sein, dann muss sie mein Gesicht nicht sehen.«
»Das hätte keine Rolle gespielt«, sage ich. »Ich bin an dein Gesicht gewöhnt.«
»So was schafft keiner. Meine eigene Mutter ⦠weiÃt du, was die gesagt hat? âºIch ertrag es nichtâ¹, hat sie gesagt. âºSein Anblick macht mich ganz krank. Können die Ãrzte denn gar nichts machen?â¹ Und der Arzt hat gesagt: âºMöglicherweise. In ein paar Jahren kann man vielleicht etwas machen. Dann sehen wir weiter. Wie sind sie versichert?â¹ Und da hat sie gesagt: âºIch glaube, er sollte lieber auf die Insel ziehen.â¹Â«
»Oh, Jeff«, sagte ich. »Das ist ja schrecklich.«
»Sie hat es nicht ganz so krass ausgedrückt. Sie hat gesagt: âºIch halte es für das Beste, wenn er bei seinem Vater wohnt. Ein Junge in seinem Alter braucht einen Mann als Vorbild.â¹ Früher fand sie das nicht. Sie hat immer das glatte Gegenteil behauptet ⦠dass mein Dad ein lausiges Vorbild ist und so. Es lief alles darauf hinaus, dass sie es nicht aushalten konnte, mich anzusehen.«
»Ich kann dich ansehen«, sagte ich. »Dein Gesicht ist dein Gesicht. Ein Teil von dir.«
»Das hat Helen auch gesagt. Sie meinte, ich solle dir sagen, was ich für dich empfinde. Und ich hab gesagt: âºHelen, du bist verrückt. Sie würde durchdrehenâ¹. Und Helen hat gesagt ⦠sie sagte â¦Â«
Wieder war er weggedämmert. Eine Welle der Panik überrollte mich. Irgendwie war mir klar, dass er nicht mehr zurückkommen würde, wenn er jetzt ginge.
»Bleib wach«, schärfte ich ihm ein. »Du musst wachbleiben. Wir kommen hier wieder raus.«
»Aber das geht nicht.«
»Doch. Das geht.«
Es geschah so plötzlich, dass ich es nicht glauben konnte. Gerade hockte ich noch mit Jeff auf dem Felssims und einen Augenblick später schwebte ich über ihm. Heller war es nicht geworden, trotzdem konnte ich alles sehen ⦠den Jungen mit dem vernarbten Gesicht, das Mädchen, das den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte. Ich wusste, dass dieses Mädchen Laurie Stratton war, und doch war sie von mir getrennt. Ich hatte mich von ihr gelöst, nichts hielt mich fest, ich schwebte nach oben wie Rauch, wie der Nebel über dem Wasser, wie ein Tropfen Wasser, den die Sonne anzieht. Ich bewegte mich durch die Ãffnung über mir. Und ich war frei!
Frei â in einer aus Himmel bestehenden Welt. Und die dehnte sich in alle Richtungen. Ich konnte hinaufsteigen, hoch und immer höher, wenn ich wollte. Ich könnte mit ihr verschmelzen und mich ausdehnen, bis ich nichts und alles wurde. Die Abendluft hätte kalt sein müssen, aber das spürte ich nicht. Ich konnte durch die dunklen Wolken zur Sonne schauen. Und ich stieg hoch, bis die Wolken weit unter mir lagen. Der Wind begann zu singen und brachte tausend Geschichten mit. Lia hatte recht gehabt, hier gab es keine Worte. Sie waren nicht nötig. Alles war bekannt, alles war verstanden. Weit, weit weg schrie eine Möwe, und ich wusste es. Auf dem Festland weinte ein Kind, und ich hörte es. Ich war losgelöst von der Erde, doch alles darauf gehörte mir.
Ferne Orte warteten auf mich, fremde Stimmen riefen, und doch konnte ich nicht widerstehen, einen Blick auf das Vertraute zu werfen. Ich bewegte mich auf die Höhe der Felsen vor Cliff House und sofort entdeckte ich Neal.
Er war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, sein Haar war vom Wind zerzaust, es sah aus wie Hühnerfedern. Pfeifend schob er sein Rad über den Pfad zum Schuppen. Auf halbem Weg blieb er stehen, bückte sich und kontrollierte anscheinend sein Vorderrad. Dann richtete er sich langsam wieder auf und stand regungslos da, auf den Lenker gestützt, mit einem ins Ungewisse gerichteten verträumten Blick.
Er schien mitten durch mich hindurch aufs Meer zu schauen. Dann blinzelte er plötzlich.
»Laurie?« Das war eher eine Frage als eine Feststellung. »Laurie?«
Er blieb noch einen Moment länger stehen, ohne sich zu rühren, mit verwundertem Gesicht. Dann wirbelte er
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