Komm zu mir, Schwester!
ist meine Schwester«, sagte ich. »Ich wollte dir von ihr erzählen.«
Das Seltsame war, dass er mir nicht gleich einen Vogel zeigte. Er hörte sich die ganze Geschichte schweigend an, und als ich fertig war, hatte er nur eine Frage.
»Warum?«
»Was warum?«
»Warum hasst sie dich so? Du hast ihr schlieÃlich nichts getan. Sie ist gekommen, weil sie dich finden wollte, nicht andersrum. So, wie du die Geschichte erzählst, ist sie dir langsam immer nähergekommen. Zuerst waren es kleine Dinge, wie etwa am Strand zu erscheinen, wo Ahearn sie sehen konnte, dann erschien sie in deinen Träumen, und danach, wenn du wach warst, und jetzt sieht es so aus, als ob sie dich von allen trennen wollte, die dir wichtig sind.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Ich habe keine Freunde mehr. Ich weià wirklich nicht, wie das passiert ist. Daran bin ich doch selber schuld, oder? SchlieÃlich hab ich sie alle gehen lassen.«
»Weil sie dich vereinnahmt hat?«
»Keine Ahnung«, sagte ich verwirrt. »Lia hat eigentlich nichts getan.«
»Das würde ich so nicht sagen«, meinte Jeff. »Sie hat versucht, mich umzubringen, oder etwa nicht? Und wie mag das mit Helen gewesen sein?«
»Glaubst du, Lia ist an Helens Unfall schuld?« In dem Moment, in dem ich die Frage aussprach, wusste ich die Antwort. Das Erstaunliche war, dass mir das nicht schon früher klar geworden war. »Natürlich ist sie das. Sie hat Helen in jener Nacht in den Park gelockt. Und zwar auf dieselbe Art, wie sie dich dazu gebracht hat, auf die Felsen rauszugehen.«
»Indem sie du war«, sagte Jeff.
»Genau, sie hat so getan, als wäre sie ich.« Plötzlich zitterte ich. Mir war jetzt kälter, als mir in der Höhle gewesen war. Das volle Grauen der Situation packte mich und wurde durch meine eigene totale Hilflosigkeit noch verschlimmert.
»Was wird sie als Nächstes tun?«, fragte ich. »Wie kann ich es vorhersehen oder verhindern? Ich weià nicht, woher sie kommt. Ich habe keine Möglichkeit, sie zu finden. Ich weià nicht, was sie erreichen will, und kenne ihre Pläne nicht. Sie kommt und geht, wie es ihr gefällt, und ich kann sie auch nur sehen, wenn sie das will.«
»Nach dieser langen Zeit wirst du doch irgendetwas herausgefunden haben«, sagte Jeff. »Ist irgendein Muster zu erkennen? Wann besucht sie dich normalerweise?«
»Immer, wenn sie es will. Nachmittags oder abends. Nachts, wenn ich im Bett bin.«
»Und wie ist es morgens?«
War sie morgens schon mal gekommen? Ich versuchte mich zu erinnern. Sie war noch nie in meinem Zimmer gewesen, wenn ich aufgewacht war. Auch in der Schule hatte mir nie jemand vorgeworfen, mich irgendwo gesehen zu haben, wo ich nicht gewesen war. Die Leute, die über derartige Vorfälle berichtet hatten, Gordon, Natalie, Mary Beth, mein Bruder und meine Schwester hatten die Person, die sie für Laurie Stratton gehalten hatten, ausnahmslos zu späteren Stunden des Tages gesehen.
»Jeff, mir fällt da etwas ein«, sagte ich langsam. »Ich weià nicht, ob es von Bedeutung ist, aber Lia wusste nichts von Mrs DeWitt.«
»Du meinst Edna DeWitt aus dem Dorf?«
»Sie macht donnerstags bei uns sauber. Ich hab ihren Namen mal Lia gegenüber erwähnt, und sie schien nichts von ihr zu wissen.«
»Und Mrs DeWitt arbeitet vormittags?«
»Halbtags. Sie geht um zwei. Sie will gern zu Hause sein, wenn ihre Kinder aus der Schule kommen. Manchmal ist sie auch an anderen Tagen bei uns, etwa wenn gröÃere Projekte anstehen wie der Frühjahrsputz, aber da kommt sie auch immer morgens.«
»Also wissen wir doch etwas«, sagte Jeff zufrieden. »Und zwar: Wie immer Lias physisches Leben auch sonst aussehen mag, morgens ist sie irgendwie beschäftigt.«
»Vielleicht geht sie zur Schule.«
»Das kann gut sein. Sie ist genauso alt wie du, folglich sollte sie in der Abschlussklasse der Highschool sein. Was fällt dir sonst noch ein? Hat sie viel über eine bestimmte Gegend des Landes geredet?«
»Unsere Mutter ist nach Gallup in New Mexico gezogen, nachdem sie das Reservat verlassen hatte«, sagte ich. »Da war die Agentur, die meine Adoption vermittelt hat. Lia hat nie davon gesprochen, dass sie noch mal umgezogen sind. Als unsere Mutter starb, wurde Lia in einer Pflegefamilie untergebracht. Wahrscheinlich können wir davon ausgehen, dass die
Weitere Kostenlose Bücher