Komm zurück, mein dunkler Bruder
dafür, Dinge – oder Menschen – zu Sauberkeit und Ordnung zu erziehen. Doch an einem flüggen Dunklen Passagier, der zum ersten Mal seine Schwingen ausbreitet und damit an den Stäben seines Käfigs rüttelt, während er sich danach sehnt, sich in die Lüfte zu schwingen und sich wie ein scharfer stählerner Blitz auf seine Beute zu stürzen, ist nichts Logisches.
Harry wusste so vieles, was ich lernen musste, um sicher und geräuschlos ich zu werden, mich aus einem wilden, knospenden Ungeheuer in den Dunklen Rächer zu verwandeln: Wie man einen Menschen spielt, wie man sicher und umsichtig vorgeht, wie man hinterher saubermacht. Er wusste um diese Dinge, wie nur ein alter Polizist es kann. Ich verstand das schon damals, doch schien das alles so langweilig und unnötig.
Und selbst Harry konnte nicht alles wissen. Zum Beispiel wusste er nichts von Steve Gonzalez, einem besonders reizenden Exemplar pubertierender Menschheit, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Steve war größer als ich und ein oder zwei Jahre älter; auf seiner Oberlippe befand sich schon etwas, das er als Schnurrbart bezeichnete. Wir hatten zusammen Sport, und er hielt es für seine von Gott auferlegte Pflicht, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Falls er recht hatte, muss Gott sehr zufrieden mit der Mühe gewesen sein, die er sich dabei gab.
Das war lange, bevor Dexter der Lebende Eiswürfel wurde, und in seinem Inneren wuchs ein gewisser heißer Zorn. Das schien Steve zu gefallen und anzuspornen, höhere Gipfel der Kreativität in der Verfolgung des siedenden Jung-Dexter anzustreben. Wir wussten beide, dass es nur auf eine Weise enden konnte, doch leider war es nicht die Weise, die Steve im Sinn gehabt hatte.
Und so stolperte eines Nachmittags ein unglücklicherweise fleißiger Pförtner in das Biologielabor der Ponce de Leon, in dem Dexter und Steve damit beschäftigt waren, ihren Persönlichkeitskonflikt auszutragen. Es war nicht ganz das schulübliche Duell mit Schimpfworten und Fäusteschwingen, obgleich ich annehme, dass Steve es so geplant hatte. Doch hatte er nicht damit gerechnet, mit dem jungen Dunklen Passagier konfrontiert zu werden, weshalb der Pförtner Steve fest an einen Tisch gefesselt vorfand, einen Streifen graues Paketband über den Mund geklebt, und Dexter, der sich mit einem Skalpell über ihn beugte, während er sich zu erinnern versuchte, was er an dem Tag in Biologie gelernt hatte, als ein Frosch seziert wurde.
Harry fuhr in seinem Streifenwagen vor, um mich abzuholen, in Uniform. Er lauschte dem entrüsteten stellvertretenden Schulleiter, der ihm die Szene beschrieb, die Schulregeln zitierte und zu wissen verlangte, was Harry zu unternehmen gedachte. Harry schaute den stellvertretenden Schulleiter einfach nur an, bis dessen Wortschwall verebbte. Er sah ihn noch einen Moment länger an, um der Wirkung willen, und dann richtete er seinen kühlen blauen Blick auf mich.
»Hast du getan, was er gesagt hat, Dexter?«, fragte er mich.
Im Bann dieses Blicks war Ausweichen oder Lügen ausgeschlossen. »Ja«, gestand ich, und Harry nickte.
»Da haben Sie es«, sagte der stellvertretende Schulleiter. Er wollte noch mehr sagen, aber Harry richtete seinen Blick erneut auf ihn, worauf er wieder in Schweigen verfiel.
Harry sah mich an. »Warum?«, fragte er.
»Er hat mich schikaniert.« Das klang irgendwie schwach, selbst in meinen Ohren, deshalb fügte ich hinzu: »Andauernd.«
»Und darum hast du ihn auf den Tisch gefesselt«, sagte er fast tonlos.
»Mhm.«
»Und ein Skalpell genommen.«
»Ich wollte, dass er damit aufhört.«
»Warum hast du niemandem davon erzählt?«, fragte Harry.
Ich zuckte die Achseln, in jenen Tagen ein wesentlicher Bestandteil meines Vokabulars.
»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte er.
»Ich kann selbst für mich sorgen.«
»Sieht nicht so aus, als wäre dir das besonders gut gelungen.«
Es schien nicht viel zu geben, was ich tun konnte, deshalb blickte ich auf meine Füße. Doch anscheinend hatten sie der Diskussion nicht mehr viel hinzuzufügen, und so sah ich wieder auf. Harry musterte mich nach wie vor und schien irgendwie nicht blinzeln zu müssen. Er wirkte nicht zornig, und ich hatte eigentlich keine Angst vor ihm, doch das machte irgendwie alles noch viel unangenehmer.
»Es tut mir leid«, sagte ich schließlich. Ich war nicht sicher, ob ich es so meinte – was das angeht, so bin ich heute noch nicht sicher, ob mir etwas tatsächlich leidtun
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