Kommissar Morry - Der Moerder von Richmond Hill
Copeland bis zur Klärung des Falles aus dem Revierdienst ziehen?"
„Unbedingt. Der Täter weiß, daß ihm von Copeland die hauptsächliche Gefahr droht. Der Mann ist ein Mörder, und er wird auch nicht vor einem Polizistenmord zurückschrecken, wenn es darum geht, sich nach allen Seiten hin abzusichern."
„Ich werde das Nötige veranlassen, Sir."
„Wie weit sind Sie mit der Überprüfung der Gästeliste gekommen?"
„Noch nicht sehr weit, Sir. Bis jetzt konnte ich erst einen entdecken, der vorbestraft ist. Einen gewissen Henry Straight. Er ist fünfundvierzig Jahre alt, Geschäftspartner von Carter. Wegen seines Alters können wir ihn wohl fallenlassen. Copelands Angaben engen den Kreis der Leute, die als Täter in Betracht kommen, wesentlich ein. Ich möchte wetten, daß wir den Kerl noch in dieser Woche am Kragen haben werden."
„Nicht zu optimistisch, Flavius. Sie wissen, wie das mit Fällen geht, die auf Anhieb so leicht und simpel erscheinen. Sie entpuppen sich sehr oft als die härtesten Nüsse."
„Möchten Sie jetzt mit Sergeant Crabb sprechen, Sir? Das ist der Führer des Streifenwagens, der in dieser Nacht bei Carter war."
,Nicht jetzt", erwiderte der Kommissar und stand auf. „Ich möchte erst Conway und Burgos einen Besuch abstatten.“
„Soll ich Sie begleiten, Sir?"
„Danke, nicht nötig. Arbeiten Sie mal an der Liste weiter."
Conway hatte sein Büro in der Innenstadt. Es war groß, sachlich, modern. Seine Sekretärin war aus irgendeinem Grund nicht im Vorzimmer, so daß Morry nach kurzem Anklopfen bei dem Architekten eintrat. Conway saß in einem Sessel an dem niedrigen Tisch, der für seine Besucher gedacht war. Vor ihm standen eine Flasche Whisky, ein Glas, eine Schale mit Eis und ein Sodasyphon. Das leicht gerötete Gesicht des Architekten bewies, daß er nicht mehr ganz nüchtern war.
„Sie fangen früh an", meinte Morry.
Conway hob die Augenbrauen. „Wer sind Sie?" fragte er mit schwerer Stimme.
„Kommissar Morry von Scotland Yard."
Conway machte eine elegante Handbewegung. „Setzen Sie sich zu mir, Meister. Was kann ich für Sie tun?"
„Für mich? Eigentlich gar nichts. Aber vielleicht wollen Sie etwas für Ihre tote Freundin tun?"
„Für Julia?" Conway verzog die Lippen und schaute in das halbvolle Glas. „Meine tote Freundin!" fuhr er bitter fort. „Daß sie tot ist, steht wohl fest. Aber war sie jemals meine Freundin? Sie hat es zwar behauptet, aber anscheinend hat sie das auch anderen gegenüber getan. Zur gleichen Zeit, in der gleichen Woche. Burgos zum Beispiel. Ich liebe dich — diese berühmten drei Worte gehörten zu ihrem Standardrepertoire. Für alle und jeden. Für Burgos und mich. Vielleicht auch für den Mörder. Ich liebe dich! Sie konnte das sprechen wie den Inhalt eines beliebigen Rollenbuches. Mit Gefühl, sogar mit Überzeugungskraft, aber ohne wirklichen Kontakt zum Herzen."
„Die Morgenzeitungen haben den Mord noch nicht erwähnt. Woher wissen Sie überhaupt, daß Miß Hopkins getötet wurde?"
„Carter hat mich angerufen."
„Sie haben sich gewiß schon Gedanken darüber gemacht, wer der Täter sein kann, nicht wahr?"
„Ich habe mir den Kopf zerbrochen, das dürfen Sie mir glauben. Aber ich bin so klug wie zuvor."
Ich vermute, Sie waren zur Mordzeit nicht allein?"
„Allerdings, Meister. Das war, wie sich nun herausgestellt, verdammt gut. Sonst würden Burgos, Miß Brooks und ich noch in Tatverdacht geraten. Wir drei waren nämlich zusammen. Zuerst brachten wir Miß Brooks nach Hause. Sie wohnt in der Nähe von Kensington. Die Ereignisse der Nacht hatten sie begreiflicherweise etwas durcheinandergebracht, und sie lud uns ein, noch eine Tasse Tee mit ihr zu trinken. Zur Beruhigung, wie sie sagte. Wir nahmen dankend an. Es war kurz nach drei Uhr morgen, als wir sie verließen."
„Erschien Ihnen Miß Hopkins in letzter Zeit verändert? Fühlte sie sich bedroht? Gab es Anzeichen dafür, daß sie etwas von dem ahnte, was auf sie zukam?"
„Wollen Sie einen Whisky?"
„Vielen Dank, ich trinke nicht. Mir genügt es, wenn Sie meine Fragen präzise beantworten."
„Wissen Sie, Kommissar, Sie werden rasch entdecken, daß es nicht leicht ist, die Gefühle von Theaterleuten zu durchschauen und zu definieren. Sie lachen, wenn sie traurig sind, und sie mimen Depressionen, wenn ihnen gar nicht danach zumute ist — das alles nur, um irgendein Ziel zu erreichen. Fragen Sie mich also bitte nicht nach dem, was Julia wirklich fühlte oder dachte.
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