Kommissar Morry - Die Stimme des Terrors
darunter gewesen, der wie der Unbekannte gesprochen hatte.
„Der Fall ist ungewöhnlich kompliziert", meinte Rockwell, der seine Worte sehr genau und vorsichtig wählte. „Nathalie Landville war eine knapp sechzigjährige Witwe, eine allgemein geachtete Dame, die zwar zur Gesellschaft der Stadt gehörte, aber aus Gründen, die ich gut verstehen kann, ein recht isoliertes Leben führte. Man weiß, daß sie von ihren Kindern, der zweiundzwanzigjährigen Jeanette und dem einunddreißigjährigen Roger beerbt wurde. Diese Kinder sind, wenn man so will, die einzigen Nutznießer des Todes von Nathalie Landville. Aber beide befanden sich zur Tatzeit nicht in Memphis..."
„... außerdem", ergänzte der Fremde spöttisch, „hatten sie keine Ursache, die eigene Mutter zu töten. Nathalie Landville war streng, aber gerecht, und sie billigte Jeanette einen Monatswechsel von genau vierhundert Dollar zu. Roger, der das Vermögen der Landvilles verwaltete, bezog ein ordentliches Gehalt in Höhe von neunhundert Dollar — ebenfalls ein hübscher Batzen Geld. Die alte Dame war im übrigen nicht ganz gesund. Es war damit zu rechnen, daß sie nicht mehr lange leben würde. Warum also hätte man die Entwicklung forcieren sollen?"
„Die Ärzte gaben ihr noch zwei Jahre", bemerkte Rockwell.
„Die beiden Kinder gelten demnach als völlig unschuldig. Aber hätten sie sich nicht hinter dem Mord verbergen können?"
Rockwell schwieg, weil er spürte, daß der Fremde noch mehr zu sagen wünschte. Nach einer kurzen Pause fuhr der Unbekannte mit leicht erhobener Stimme fort: „Aber an diese Möglichkeit dachten Sie nur flüchtig. Hier im Süden läßt man den alteingesessenen Familien gegenüber eine gewisse Pietät walten. Man bringt es nicht übers Herz, jemand zu unterstellen, ein Muttermörder zu sein. Und Sie haben ja einen guten Grund, weder Roger noch Jeanette zu verdächtigen — denn schließlich waren beide zur Tatzeit nicht in Memphis!"
Der Inspektor runzelte die Augenbrauen. Was hatte der offene Hohn in den Worten des Eindringlings zu bedeuten?
„Sie dürfen versichert sein, daß wir diesen Punkt sehr gründlich untersuchten. An den Alibis der beiden gibt es nichts zu rütteln!"
„Ist es nicht merkwürdig, daß Jeanette und Roger, die fast niemals aus dieser Stadt herauskommen, ausgerechnet an jenem Freitag nicht in Memphis waren?"
„Es ist wahrscheinlich, daß der Mörder sich diesen Umstand zunutze machte."
„Lieber Himmel", meinte der Fremde seufzend. „Sie erklären, daß Sie im dunkeln tappen. Zumindest läßt der Umstand, daß Sie sogar mich verdächtigen, und nach so vielen Wochen keine Verhaftung vorgenommen haben, darauf schließen. Ist Ihnen noch niemals der Gedanke gekommen, daß eines der Kinder sich einen Mörder gedungen haben könnte?"
„Sie haben eine rege Phantasie."
„Aber so etwas gibt's doch, nicht wahr?"
„Ich kenne die Landvilles gut", sagte Rockwell. „Das schließt die Kinder mit ein. Es sind normale, aufgeweckte Menschen, nett, höflich und gebildet. Sie hatten nicht den geringsten Anlaß, eine so scheußliche Tat zu begehen."
„Ja, daran kranken Ihre Untersuchungen — am Fehlen eines Motivs, nicht wahr?"
„Bringen Sie mir eine Patentlösung?"
„Wenn ich sie hätte, wäre ich nicht hier. Dann hätte ich bereits auf eigene Faust gehandelt."
Rockwell legte die Stirn in Falten. „Sie stammen nicht aus Memphis, nicht wahr?"
„Sie werden verstehen, daß ich es mir nicht erlauben kann, diese und ähnliche Fragen zu beantworten."
„Roger und Jeanette sind unschuldig!"
„Sie setzen sich in bemerkenswerter Weise für die armen, mutterlosen Wesen ein", spöttelte der Unbekannte. „Sollte das daran liegen, daß die Landvilles zur alten Baumwollaristokratie der Stadt gehören? Es ist anscheinend ein ungeschriebenes Gesetz des Südens, daß man bestimmte Kreise von häßlichen Verdächtigungen frei hält."
„Sie sind ein Narr, wenn Sie das glauben!" sagte Rockwell ärgerlich. „Hier zählt nur eins: das Recht! Es ist die Richtschnur, an die ich mich halte."
„Ich hoffe, das sind keine leeren Worte."
„Ich habe es nicht nötig, mich Ihnen gegenüber zu rechtfertigen!" polterte Rockwell. „Wie sind Sie eigentlich in meine Wohnung gekommen?"
„Durch die Tür. Das Schloß ist miserabel. Wenn man geschickt ist, kann man es leicht mit einer zurechtgebogenen Büroklammer öffnen."
„Fristen Sie mit dieser Art von Geschicklichkeit Ihr Leben?"
„O nein. Das habe ich nicht
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