Kommissar Morry - Die Stimme des Terrors
Ich bin dafür, daß wir diese Briefe sofort der Polizei übergeben!"
„Das ist nicht möglich."
„Warum?"
„Ich habe sie vernichtet."
„Das war dumm von dir."
„Hätte ich sie einrahmen lassen sollen!" fragte Jeanette wütend.
„Du mußt doch weiterdenken, Jeanette", sagte er. „Was ist, wenn sich die Polizei hinter diesen Briefen verbirgt? Vielleicht will sie herausfinden, wie wir auf die Vorwürfe reagieren?"
„Ich halte es für gänzlich undenkbar, daß sich Inspektor Rockwell zu derartig infamen Methoden herabläßt. Nein — die Briefe beweisen nur, daß sich in unserer Stadt eine Partei gebildet hat, die in uns Mamas Mörder sieht."
„Das kann und will ich nicht glauben!"
„Die Briefe bilden doch den Beweis, Roger! Wir dürfen diesen Menschen und ihren Verleumdungen keine weitere Nahrung geben, indem wir das Haus verkaufen."
„Was wir auch tun oder unterlassen, wird die bösen Zungen nicht davon abhalten, über uns zu reden. Dieses Gerede wird vermutlich solange anhalten, bis die Polizei den Täter gestellt hat."
Jeanette blickte den Bruder an. „Und was ist, wenn sie ihn nicht findet?"
Er zuckte die Schultern. „Das darf uns im Augenblick nicht kümmern. Die Leute, die anonyme Briefe schreiben und häßliche Gerüchte verbreiten, stehen charakterlich so tief unter uns, daß es überflüssig ist, auch nur einen einzigen Gedanken an sie zu verschwenden!"
„Vielleicht hast du recht."
Sie schwiegen ein paar Sekunden, dann sagte Jeanette: „Warum werden wir verdächtigt? Weil wir uns weitgehend passiv verhalten! Wir überlassen alles der Polizei." Sie schaute den Bruder an und fragte: „Warum unternimmst du nichts, um den Täter zu finden?"
„Ich?"
„Ja, du!" erwiderte Jeanette. „Ich bin davon überzeugt, daß die dummen Redereien nur deshalb entstanden sind, weil man in uns ein paar junge, faule Nichtstuer sieht, denen der Tod der strengen Mutter nicht ganz ungelegen gekommen sein mag. Du bist jung, und du bist ein Mann! Aber du benimmst dich wie ein weiblicher Playboy. Du gehst täglich Tennis oder Golfspielen. Das sehen die Leute nicht gern. Es ist kein Wunder, daß viele sich darüber auf regen."
„Ich kann mich nicht um das kümmern, was die Leute sagen", erklärte er. „Denen kann es niemand recht machen. Wo sollte ich denn beginnen, den Mörder zu suchen? Ich habe keine Lust, mich lächerlich zu machen. Ich bin auch dagegen, der Polizei ins Handwerk zu pfuschen. Rockwell ist ein guter, tüchtiger Beamter. Wenn einer das Verbrechen aufklären kann, so nur er. Im übrigen habe nicht ich die anonymen Briefe empfangen, sondern du! Wie du daraus ersehen kannst, gibt es niemand, der mir aus meiner Haltung einen Vorwurf macht."
Jeanette preßte einen Moment die Stirn gegen das kühle Fensterglas. „Warum mußte Mama sterben?" fragte sie leise. „Warum?"
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Roger matt. „Wie oft hast du mir die Frage nach der Ursache des Verbrechens schon gestellt, Jeanette? Drei oder vier Dutzend Male? Ich habe mich das gleiche schon viel häufiger gefragt! Aber ich finde darauf keine Antwort. Mama ist kaum jemals aus dem Haus gegangen. Sie führte ein ruhiges, zurückgezogenes Leben. Sie hatte keine Feinde..."
„Aber auch keine Freunde", warf Jeanette ergänzend ein. „Sie war, das wissen alle, weltfremd und bigott. Es war nicht leicht, mit ihr auszukommen."
„Stimmt genau. Aber sie war auch gerecht, und sie war klug. Es gab keinen Grund, sie umzubringen."
„Ihr wurde nichts gestohlen", sagte Jeanette seufzend. „Nicht einmal das kostbare Brillantarmband, das neben ihr auf dem Nachtschränkchen lag."
„Ich habe mich oft gefragt, weshalb sie es an ihrem Todestag aus der Schmuckschatulle genommen haben mag", meinte Roger nachdenklich.
„Sie liebte ihren Schmuck. Er erinnerte sie an ihre Jugend, und an die Zeit, als Papa noch lebte."
„Wahrscheinlich. Der Täter kann das Armband jedenfalls unmöglich übersehen haben. Manchmal glaube ich, daß es ein Geistesgestörter gewesen sein muß."
„Ich habe schon überlegt, ob es einer der inzwischen entlassenen Hausangestellten gewesen sein könnte. Mama war der Dienerschaft gegenüber immer sehr streng. Ist es nicht denkbar, daß sie einen Angestellten einmal tödlich beleidigt hat, und daß es sich bei dem Mord um einen privaten Racheakt handelt?"
„An diese Möglichkeit habe ich gedacht und sie dem Inspektor gegenüber erwähnt. Er hat in dieser Hinsicht seine Recherchen angestellt. Es ist
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