Kommissar Steen 01 - Unruhe
Lindberg? Nur zu gerne hätte Axel gesehen, dass dieses Arschloch im Gefängnis verfaulte, aber doch nicht für etwas, das er nicht getan hatte.
Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm seinen Laptop und loggte sich ins Netz ein. Lindberg war auf der Startseite sämtlicher Internetzeitungen: Bekannter Aktivist des linken Flügels unter Mordverdacht.
Die Nachricht vom Mord an Piver war noch nicht raus, aber das konnte nicht mehr lange dauern. Es war Sonne, der die Story über Lindberg fürs Ekstra Bladet geschrieben hatte. Sollte er ihn anrufen und ausquetschen, woher er sie hatte? Er würde eine Gegenleistung verlangen, und selbst wenn Axel ihm etwas lieferte, war es keineswegs sicher, dass Sonne seine Quelle preisgab. Axel war der Name des Informanten eigentlich egal, er wollte nur wissen, ob es jemand aus ihren Reihen war. Das musste warten, es wäre viel zu riskant, ihn vom Präsidium aus anzurufen, er musste ein anderes Telefon benutzen.
Er rief seine Mails auf und las die eingegangenen Berichte. Darling hatte einen Dienstplan erstellt, auf dem Axel als Stand-by für die Überwachung von Laila Hansen eingetragen war, eine Degradierung, die einem Erdrutsch gleichkam, aber der Gedanke, sie wiederzusehen, ließ Wärme in ihm aufsteigen.
Er konnte genauso gut nach Hause fahren, eine große Pfeife Haschisch rauchen und diesen Scheißtag einfach vergessen.
Er holte sich eine Tasse Kaffee, schloss die Tür und setzte sich. Dann schob er einen Stapel alter Berichte über die Überwachung eines Haschischklubs beiseite und stellte die Kaffeetasse auf der Glasplatte ab, die seinen Schreibtisch bedeckte. Zwischen Glas und Tischplatte lagen Merkzettel, Telefonlisten, Flyer von Take-away-Restaurants, eine Postkarte mit einem Motiv von Francis Bacon und ein Urlaubsbild von Emma am Strand mit blonden Locken, brauner Haut, hellrotem Rüschenbadeanzug, kreideweißem Überbiss und blinzelnden Augen. Auf der rechten Seite lagen drei weitere Fotos: das kleine schwarzhaarige Mädchen und zwei junge, lächelnde Frauen, Rajan, Miranda und Stina, die Anfang der Neunziger umgebracht worden waren. Sie starrten ihn an von einem Ort, an dem die Dunkelheit tiefer und dichter war als irgendetwas, das er kannte.
Ihre Mörder waren immer noch da draußen. Und sie mussten gefunden werden, und Axel würde alles dafür tun, derjenige zu sein, der sie zur Strecke brachte. Sie ihrer Strafe zuführte. Tot, wenn es sein musste.
Er scrollte die E-Mails zurück bis zum Freitagmorgen und begann, sämtliche Berichte zum Fall auszudrucken. Jetzt, da man ihn aufs Abstellgleis bugsiert hatte, wollte er noch einmal alles durchgehen. Es war nicht das erste Mal, dass man ihn im Verlauf einer Ermittlung formal degradiert hatte; er würde wieder aufstehen und diesen Fall und den ganzen Schwachsinn aufklären.
Auf Axels Bildschirm erschien ein Fenster und machte klar, dass er in der Ermittlerhierarchie zwar nach unten gerutscht war, nach wie vor aber das elektronische Material im Mordfall Enver Davidi zugesandt bekam. Er las mit, während das Protokoll auf seinem Bildschirm erschien:
»Wiederaufnahme des Verhörs mit dem festgenommenen Martin Lindberg 220964-0119. Anwesende: der Festgenommene, sein Anwalt, Vizekriminalkommissar John Darling von der Polizei Kopenhagen und Vizekriminalkommissar Kristian Kettler vom PET . Protokollführerin Erna Jensen.«
Kettler, natürlich. Axel stieß seine Kaffeetasse um, sodass sich die braune Flüssigkeit über die Glasplatte verteilte und die Bilder der drei getöteten Frauen und das seiner Tochter bedeckte, bevor sie so dünn wurde, dass ihre Gesichter wieder aus der braunschwarzen Brühe auftauchten. Er fluchte lauthals, griff hastig nach einer Küchenrolle und trocknete den Schreibtisch,so gut es ging, während er den Blick nicht vom Bildschirm nahm. Natürlich war es das neue Dreamteam, das Lindberg verhörte. Das erklärte vielleicht, wie der Chef von seinem Deal mit TV 2 Wind bekommen hatte.
Im Moment konnte Axel nichts dagegen tun, aber sobald er die Möglichkeit dazu hätte, würde er Darling damit konfrontieren.
Er folgte dem Verhör und versuchte gleichzeitig, sich einen Überblick über alle Dokumente zu verschaffen, die den Fall betrafen. Er druckte alle Zeugenaussagen vom Freitag aus. Zweihundertsiebenunddreißig waren es insgesamt, von den Anwohnern des Friedhofs über Presseleute und Demonstranten bis hin zu sämtlichen Kollegen, die in der fraglichen Nacht dort im Einsatz gewesen waren.
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