Kommissar Steen 01 - Unruhe
den Rat eines Kollegen gehört hatte, anstatt seinem Instinkt zu folgen. Und es war das letzte Mal gewesen, dass er seinem inneren Clint Eastwood freien Lauf gelassen hatte, ohne an die Konsequenzen zu denken. Zwei Tage später waren Svenne und Lissi umgezogen, raus aus der Stadt, in eine Gemeinde außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Kopenhagener Polizei und der Polizei Seeland, wo ihnen keine psychopathischen Bullen und keine nervigen Sozialdienste auf den Fersen waren. Axel hatte über Umwege erfahren, dass das Leben in der Familie weiter seinen gewohnten Gang ging. Und das hatte ihn davon überzeugt, dass er besser besonnener vorgegangen wäre und dafür gesorgt hätte, dass den Eltern das Sorgerecht für die Kinder entzogen wurde, anstatt dem Vater Todesängste einzujagen. So hatten sich die Eltern noch drei Jahre länger vor den Sozialbehörden verstecken können, bis endlich etwas passierte.
Axel schob die Erinnerungen an die Ereignisse in der Griffenfeldsgade beiseite und bog um die Ecke auf die Nørrebrogade, lief dann am Brugsen und am Guf vorbei, wo er sich oft CD s kaufte, öffnete eine Glastür und betrat das Hotel Continent. Die Wand links von der Rezeption war von Briefkästenbedeckt, die nicht so aussahen, als würden sie noch benutzt. An einigen waren die Schlösser abgebrochen worden, andere quollen über vor alten Reklameblättchen.
I love New Yor k stand auf der Brust der Frau mit dem gebleichten Haar, die am Empfangstresen lehnte. Sie war wohl in den Zwanzigern, schätzte Axel. Ein polnischer Kalender und ein Modiglianiplakat hingen hinter ihr an der Wand. Das Plakat machte ihn traurig.
»Yes?«, sagte die Frau mit deutlichem osteuropäischem Akzent.
Hinter einem aufklappbaren Teil des Tresens, einer Art Schranke etwas seitlich von Axel, stand ein Mann, und in einem Sessel bei der metallenen Wendeltreppe, die in den ersten Stock hinaufführte, saß ein weiterer Mann in einem Ledermantel und reinigte die Fingernägel der einen Hand mit denen der anderen. Er blickte Axel träge an und sagte etwas auf Polnisch zu der Frau, die Axel nun noch mechanischer anlächelte als zuvor.
»Can I help you?«, fragte sie.
Sie hatte die Anweisung verstanden.
»Was kostet ein Zimmer?«
»Viertausend im Monat.«
»Mit Bad?«
»Das Bad ist … äh …«
Die Frau wandte sich zu dem Mann und fragte etwas.
»… auf der Straße.«
Der Mann feuerte ein paar Worte auf sie ab.
»Sorry, auf dem Gang. In corridor.«
»Braucht ihr einen Ausweis, Pass oder irgendeine Legitimation?«
»Wir nur brauchen Bezahlung im Voraus.«
Axel zog seinen Ausweis und hielt ihn der Frau hin. Der Mann in dem Ledermantel sah ihn nicht einmal an.
»Ich bin nicht hier, um ein Zimmer zu mieten, sondern um mir eins anzusehen. Ich ermittle in einem Mordfall.«
»Yes, yes«, setzte die Frau an.
Axel unterbrach sie und wandte sich auf Dänisch an den Mann im Sessel.
»Du da in dem Ledermantel. Sprichst du Dänisch?«
Er sah auf, als verstehe er kein Wort, aber Axel konnte sehen, dass er sehr genau verstand, was er gesagt hatte.
»Vielleicht Englisch? Ist das besser hier als in New York?«, fragte Axel.
»New York, yes, yes«, zwitscherte die Frau und lächelte nervös.
»Du bist ziemlich weit weg von der Stadt deiner Träume«, sagte Axel und zeigte auf das T-Shirt.
»Vielleicht, aber näher als in Warschau«, antwortete sie.
Das bezweifelte Axel. Das Hotel Continent in der Nørrebrogade war wie ein Loch in der Erde, ein Ort, an dem die Menschen unter der Last ihrer Vergangenheit festsaßen und es kaum schafften, sich auf ihrem Lebensweg weiter voranzuschleppen. Es war ein Zustand, eine Haltestelle, an der man gegen seinen Willen abgesetzt und selten wieder abgeholt wurde.
Vor fünf Jahren hatte Axel das Hotel zum ersten Mal aufgesucht. Lucky Yusul war ein siebzehnjähriger Gambier, der einigen Jugos unten am Südhafen Geld für Rauch-Heroin schuldete. Außerdem hatte er beim Pokern verloren und konnte nicht bezahlen. Er brauchte einfach nur einen Ort, an dem er abtauchen konnte, bis er genug Geld zusammenhatte, um zu seinem großen Bruder nach London abzuhauen. Das Zimmer im Continent hatte er von einem Freund übernommen. Lucky Yusuls Leben endete in Zimmer 232 des Hotels am Boulevard der zerbrochenen Träume in einer eineinhalbstündigen Gewaltorgie, in deren Verlauf er gewürgt, mit einem Brecheisen und einem Stuhl geschlagen, getreten und mit einem Gemüsemesser und einer Schere erstochen wurde. Es waren nicht die
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