Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
Verführung zu erliegen, bittet Emilia ihren Vater, der sich durch eine List Zugang zu dem Ort ihrer Entführung verschafft hat, sie zu töten, doch er verweigert sich ihrer Bitte. Stattdessen tötet sie sich selbst, in seinen Armen, um ihre Ehre zu retten. Der Sieg der Moral über das Leben? Sollte die Aussage des Stückes eine Botschaft an Roxanne sein? Wenn ja, dann verstand Meißner sie nicht.
Es gab zwei Möglichkeiten. Erstens: Der Spieler hatte nichts mit dem Mord zu tun. Dann wusste er tatsächlich nichts von Roxannes Tod und setzte sein Spiel einfach nach Plan B fort, wie er es im Brief beschrieben hatte. Oder er führte sie, die Ermittler, auf ganz perfide Weise an der Nase herum.
Der Hauptkommissar begann die Schreibtischschubladen nach gelben Umschlägen zu durchsuchen und wühlte sich durch allen möglichen Krimskrams, Metrotickets aus Paris, Fahrkarten des Riesenrads im Wiener Prater, Eintrittskarten für die Hypo-Kunsthalle in München.
Wo bewahrte man persönliche Briefe auf, wenn man sie aufbewahrte beziehungsweise wenn man überhaupt noch welche bekam? Ihm hatte schon seit Jahren niemand mehr einen persönlichen Brief geschrieben. Selbst das Verschicken von Postkarten war schon fast aus der Mode gekommen. Heute sendeten die Leute E-Mails aus dem Urlaub oder eine SMS aufs Handy: »Hi, Grüße aus der Sierra Nevada, aus 3.120 Metern Höhe.«
In einem Ikea-Pappkarton wurde er schließlich fündig und stieß auf weitere vier Briefe auf demselben gelben Papier. Der erste war mit einem Stempel vom 29. Juli versehen. Es klingelte.
»Und?«, fragte er Rosner, die vor der Tür stand.
»Wie es halt so ist in der Großstadt. Man kennt sich nicht, man weiß nichts voneinander, man grüßt sich höchstens im Treppenhaus. Frau Kapusta hat ab und zu ein Päckchen für Frau Stein angenommen, aber am Tatnachmittag war sie nicht zu Hause. Herr Leotidis war zwar hier, aber er ist derzeit arbeitslos und hat dem Geruch nach ein Alkoholproblem. Er hat nichts gesehen oder gehört. Frau Stein hat sich mal wegen seines Saustalls in der Waschküche bei ihm beschwert, worauf er entgegnet hätte, als alleinstehender Mann nicht so viel Wert auf Reinlichkeit zu legen. Ich war mit ihm unten. Es ist wirklich widerlich. Seine Waschmaschine leckt, sein Waschmittelkarton sieht aus wie ein verbeulter Fußball, und das Pulver ist total verklumpt und scheint vor sich hin zu schimmeln.«
Meißner dachte ganz kurz an seine eigene Ecke im Gemeinschaftswaschraum, die nicht nur in den Augen seiner Kollegin wahrscheinlich kaum besser aussah.
»Alles modert und muffelt da unten«, fuhr Rosner fort. »Frau Steins Wäsche hängt übrigens noch auf der Leine.«
Augenblicklich sah der Hauptkommissar ihre Wäscheleine, behängt mit weißen und roten Spitzen- BH s und Slips, vor sich.
»Kennen Sie Emilia Galotti?«, fragte er, um die Gespenster seiner Gedanken zu verscheuchen.
»Lessing? Oje, das ist schon lange her. Wir haben es in der Schule gelesen.«
»Sie werden es sich morgen im Theater ansehen.«
»Tatsächlich? Gut, dass ich sowieso noch nichts anderes vorhatte.«
»Finden Sie heraus, was Roxanne Steins Lieblingsfarbe war.«
Rosner ging ins Schlafzimmer hinüber und öffnete den Kleiderschrank, Meißner folgte ihr.
»Also«, sagte sie, »ihre Klamotten sind in den klassischen Tangofarben gehalten, würde ich sagen: schwarz, weiß, rot. Haben Sie aus der letzten Zeit Fotos gefunden? Ich meine, damit wir wissen, was sie gerne trug?«
Was war er doch für ein Trottel, dass er bisher noch nicht danach gesucht hatte.
Im Regal fanden sie eine digitale Spiegelreflexkamera mit fast voller Speicherkarte. Auf ihr befanden sich hauptsächlich Bilder von Frauen, vielleicht im Frauenhaus aufgenommen. Dann gab es noch einzelne Gesichter, Arme und Beine mit blauen Flecken, Narben und offenen Wunden. Kein schöner Anblick.
Dazwischen hatte Roxanne Stein ihre Töchter fotografiert. Und da war sie selbst, vielleicht von ihrer Schwester aufgenommen, im Park, in einem Café sitzend. Zur Jeans trug sie eine rote Bluse und rote Sandalen. Sie lachte und hielt ihre Cappuccino-Tasse in die Kamera. Sie wirkte so lebendig.
Auch Bilder von Gladiolen fanden sich auf der Speicherkarte. Vielleicht die von dem Feld, das auch Meißner kannte? Was sie jedoch nicht fanden, war auch nur ein einziges Foto von einem Mann.
»Rot also?«, fragte er.
»Darauf möchte ich wetten.«
»Dann suchen Sie sich für morgen ein schönes rotes Kleid aus und besorgen
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