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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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meilenweiter Dunkelheit und wer weiß was unter sich irgendwo ausgesetzt zu sein.»
    Sie beobachteten einen verrosteten Tanker, der stromabwärts zum Ozean zog.
    «Freiwillig wäre ich auch nicht scharf darauf.»
    «Aber phantastisch, findest du nicht? Ein Mädchen, das mutterseelenallein durch die Meerenge schwimmt, über die einmal die ersten Menschen auf diesen Kontinent gekommen sind.»
    Er stellte sich Lana vor, durchs offene Meer Richtung Sibirien kraulend.
    «Phantastisch.»
    Er hörte sie gern reden, liebte ihre sorglose Art zu erzählen, was ihr gerade durch den Kopf ging, über einen Streit mit einer Freundin oder ein Buch, das sie gelesen hatte. Es war eine Freiheit, die zu ihren Bewegungen passte, zu ihren selten, nur mit äußerster Beherrschung still gehaltenen Gliedern. Alles an ihr schien beschleunigt, und die selbstverständliche Vertrautheit, die so schnell zwischen ihnen aufgekommen war, überraschte und beglückte ihn. Zuweilen war er überzeugt, sie müssten schon früher unzählige Male hier gesessen haben, Lunchtüten auf dem Schoß und unter sich den Fluss, aber Lana blieb dabei, das hätten sie nicht. Er verstand zwar die Unwahrscheinlichkeit, er als ihr Professor und sie als seine Studentin, aber dennoch konnte es unmöglich sein, dass er sie nicht besonders wahrgenommen, ihr nicht wie eine Art Wunder hinterhergesehen hatte, wenn sie nach dem Unterricht ihre Sachen packte und hinausstürzte, die reinste Explosion, atemberaubend. Zum Mindesten aber musste sie ein Mädchen gewesen sein, das ihn in seiner eigenen Studentenzeit wie ein blankes Schwert getroffen hätte.
    Abgesehen von dem Hund war sie die Erste, mit der er sich angefreundet hatte, und irgendwie wollte er sie für sich behalten. Er erzählte Anna nicht von ihr, weil ihm schien, dass sie sonst fast alles teilten – zehn Jahre, eine Ehe, ein Bett, ein Bad, jede Menge Schallplatten, Teller, Möbel, das Telefon und den Freundeskreis. Er wollte etwas Eigenes, eine kleine Anbaufläche außerhalb ihres gemeinsamen Lebens, die ihm allein gehörte.
    Er knüllte seine Lunchtüte zusammen und warf sie in den Abfallkorb.
    «Solltest du beschließen, im Badeanzug durch die Beringstraße zu schwimmen …», sagte er. Sie sah ihn an. «… nehme ich ein Paddelboot und fahre hinterher, um dich anzufeuern.»
    «Danke. Und wenn du beschließt, noch einmal zu Fuß quer durch Amerika zu gehen, komme ich im Auto hinterher.»
    «Und du würdest mich anfeuern?»
    «Den ganzen Weg», sagte sie.

S ein Traumleben war einfach. Er träumte, er renne durch endlose Türen zu einem Stausee unter einem kosmischen Himmel. In schlechten Nächten träumte er, er sei lebendig begraben. Er träumte von verkohlten Bäumen und Bergen weißer Asche, von menschenleeren Landschaften, aus denen er sonderbarerweise mit einem Gefühl freudiger Erleichterung erwachte. Seine Träume waren erstaunlich unbewohnt. Nur einmal träumte er von seiner Mutter. Die Träume hatten keine Handlung, und meistens ließen sie sich mit ein oder zwei Zeilen in dem Tagebuch beschreiben, das zu führen Dr.   Lavell ihn gebeten hatte. Er zeichnete diese minimalistischen Szenen jeden Morgen auf, und gelegentlich nahm er sie mit zu Lavell, der sie durchsah wie ein Grammatik prüfender Lehrer. Er unterschlug nur einen Traum, in dem er Lana in der leeren Bibliothek von irgendeinem höheren Standort aus nackt beim Blättern beobachtet hatte. Bisweilen ärgerte er sich, jeden seiner Gedanken der medizinischen Begutachtung zur Etikettierung und Eintragung ausliefern zu müssen, als handelte es sich um archäologische Bruchstücke.
    Halloween kam und ging, die Straßen der Upper West Side füllten sich mit kleinen Ansammlungen von Hexen und Comicfiguren, Mädchen mit gebrochenen Flügeln, Kriegern in Alufolie. Samson schmückte Frank mit ein paar Karnevalskugeln und führte ihn aus, worauf ein Schwarm Ballerinas herbeistürzte, ihn bezirzte, dann herumwirbelte und knicksend die Straße hinunter verschwand, wie Derwische. Das Wetter, das sich bis dahin nachsommerlich gehalten hatte, schlug plötzlich um, und es regnete Graupel in Strömen, während das Jahr eine Saison übersprang und sich behaglich im Winter einrichtete.
    Anna begann, Samson Dinge zurückzugeben, die sie ihm ohne Erklärung auf den Schoß legte. Alte Notizbücher, sein Schweizer Armeemesser, seinen Jahrgangsring. Dinge, die ihm gehörten und die ganze Zeit da gewesen waren, in Schubladen oder auf Regalen, Dinge, von denen er nichts
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