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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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wusste und die er nicht vermisste.
    Schweigend überreichte sie ihm sein Adressbuch. Er blätterte es durch.
    «Deprimierend, all diese Leute.»
    «Dann schmeiß es weg», sagte sie, indem sie sich ins Schlafzimmer zurückzog und die Tür hinter sich schloss.
    Er trug einen alten Bademantel und zappte, die Fernbedienung drückend, durchs Fernsehprogramm. Anna verstand nicht, warum er niemanden anrufen, ja nicht einmal versuchen wollte, mit denen Kontakt aufzunehmen, an die er sich erinnerte, Freunde aus der Kindheit oder seinen Großonkel Max, der ihm fast ein Vater gewesen war. Er fand es zu schwierig, ihre Stimmen zu hören. Nicht, dass er nicht manchmal an sie gedacht hätte, aber was sollte er sagen? Er wollte nicht wissen, was vierundzwanzig Jahre aus ihnen gemacht hatten. Sein Großonkel Max musste jetzt über neunzig sein; Anna hatte gesagt, er sei in einem Altersheim in Kalifornien. Max, der aus Deutschland geflüchtet war und ihm beigebracht hatte, auf Jiddisch zu fluchen und einen guten Kinnhaken zu landen, der ihm Bücher zusteckte, wenn es niemand sah, als enthielten sie Pornographie. Guter Stoff , flüsterte er, indem er Samsons Finger um einen Band von Kafka schloss. Er war kein frommer Mann, aber er lehrte Samson, die Thora auf Hebräisch zu lesen, damit er wusste, wo er herkam. Hör auf den Klang der Worte, sagte Max und sang ein paar Zeilen der Amida. Der Klang sagt alles. Er nahm Samson mit in die Synagoge, und mitten beim Beten unter alten Männern, die nach Menthol und Wolle rochen, erklärte er ihm, so etwas wie Gott gebe es nicht. Warum kommen sie dann alle? , fragte Samson. Um sich zu erinnern, erwiderte Max, und während Samson sich umsah, in welche Runde er mit diesem Geheimnis aufgenommen worden war, überkam ihn ein Gefühl des Stolzes. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, wie wenige der weisen Männer dieser Gemeinde jetzt noch am Leben waren.
    Und die anderen: Freunde aus dem Wohnheim für Erstsemester, Exfreundinnen, Freunde, mit denen er Rucksackreisen durch Europa unternommen hatte, Frauen, die er nach ihren Telefonnummern gefragt, aber nie angerufen hatte, Professoren, Kollegen, Eltern oder Freunde von Freunden, Bekannte, die er gelegentlich auf einen Drink getroffen hatte, Leute, zu deren Partys er einmal im Jahr gegangen war. Leute, denen er jedes Mal, wenn er ihnen in die Arme lief, geschworen hatte, sie anzurufen, ohne es je zu tun. Sie alle mussten in dem Büchlein stehen. Wahrscheinlich wäre Anna beglückt gewesen, wenn er nach jedem und jeder Einzelnen gefragt, geflissentlich ihre statistischen Daten am Rand vermerkt hätte: Beruf, Größe und Gewicht, Schönheit nach einer Skala von eins bis zehn. Aber er tat es nicht. Er war es leid, erinnert zu werden, hatte genug von Lernkarten-Fotos, von Annas schneidender Missbilligung dessen, was sie seinen Widerstand nannte. Er wusste nicht, wie er ihr freundlich beibringen sollte, was ihm allmählich klar wurde: Er wollte es nicht, dieses Leben, das sie ihm zurückzugeben versuchte.
    Aber in den letzten Wochen schien auch Anna langsam aufzugeben. Sie wurde stoischer, als wäre etwas in ihr zerbrochen und hätte sich verhärtet. Sie unternahm immer weniger, um die Distanz zwischen ihnen zu überwinden. Das Schlafzimmer war ihr Territorium geworden; er betrat es nur noch, um ins Bett zu gehen, und manchmal nicht einmal das; dann verbrachte er die Nacht auf dem Sofa.
    Das Adressbuch auf dem Schoß, schlief er vor dem Fernseher ein und schrak jäh um drei Uhr morgens hoch. Zuerst spürte er seinen trockenen Mund, dann hörte er den Fernseher fröhlich sich selbst vorsingen. Er stand auf, stellte das Gerät ab und stolperte in die Küche. Zwei oder drei Fenster des Gebäudes auf der anderen Straßenseite flimmerten bläulich. Er öffnete den Kühlschrank, und das Licht fiel auf den Boden. Gierig trank er aus einer Tropicana-Tüte und suchte die Fächer nach etwas zu essen ab. Alles kam ihm jetzt fremd und unappetitlich vor, wie Nahrung einer anderen Spezies, die kräftiger war, belastbarer als Menschen.
    Einmal, mit neun oder zehn Jahren, hatte er an die NASA geschrieben und um Informationen über andere Galaxien gebeten. Ein paar Wochen später war ein Päckchen aus Florida gekommen, das einen xerokopierten Brief mit der Unterschrift von John Glenn, ein mit seiner handelsüblichen Minolta geschossenes Foto vom Mond und ein versöhnliches Silberpäckchen mit gefriergetrocknetem Eis enthielt. Samson hatte das Eis mit in die Schule
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