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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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fadenscheiniges Zeug hervorgebracht.» Die Eiswürfel in seinem Wasserglas waren verrutscht und klickten aneinander. Ray sah nach unten, dann richtete er den Blick wieder auf Samson. «Trotzdem, vergessen wir nicht, dass die verdammte Bhagavadgita geholfen hat, die Bombe zu bauen.» Ein flüchtiges Lächeln hatte seine Lippen umspielt, ehe sein Gesicht wieder die üblichen entspannten Züge annahm. Er hatte die Reste auf seinem Teller zur Seite geschoben, wie um dem Platz zu machen, was er gerade sagen wollte.
    «Was meinen Sie, wenn wir den spirituellen Aspekt des menschlichen Wesens einfach als das Bedürfnis nach Zugehörigkeit definieren – sei es auf einer kosmologischen, biologischen oder gesellschaftlichen Ebene. Das, was die Leute spirituelle Erfahrungen nennen, impliziert gewöhnlich das plötzliche Gefühl irgendeiner übernatürlichen Verbundenheit, stimmt’s? Weißes Licht, eine Vereinigung mit Gott, ein Moment, in dem man plötzlich das ganze verdammte Universum begreift. Was immer das sein mag. Aber wer weiß schon etwas über Gott oder nicht Gott? Und wer weiß am Ende wirklich etwas über die Funktionsweise dieses Dings, in dem wir uns befinden, das Universum, wie man es in Ermangelung eines besseren Wortes nennt? Niemand. Eine sehr einsame Vorstellung, finde ich.»
    Er hatte Samsons Gesicht beobachtet, die Reaktion auf jedes Wort registriert wie ein großer Interpret, der sein Publikum ständig im Auge behält, um die Stimmung abzulesen.
    « Was wir wissen, ist, dass wir uns alle miteinander in diesem Ding befinden. Also warum nicht den Schrecken erträglicher machen, indem wir, wenn es möglich wäre, wechselseitig das Bewusstsein der anderen erleben? Sehr kontrolliert natürlich, wie wenn man eine Erinnerung teilt.»
    Er hatte eine Pause eingelegt, gab Samson Zeit, die Information aufzunehmen.
    «Überhaupt, das Teilen ist die ganze Wissenschaft. Wir quantifizieren nur, damit wir kommunizieren und besser teilen können. Je genauer ich etwas definieren kann, umso eher bin ich in der Lage, es zu teilen. Wenn mir beispielsweise einer sagt, ‹Eben habe ich das Licht gesehen›, und ich nicht weiß, wovon er redet, kann ich das nicht teilen. Wenn er mir aber ermöglicht, die gleiche Erfahrung zu machen, fängt die Wissenschaft schon an.»
    Samson hatte das Gefühl gehabt, allmählich zu verstehen, das Bild nehme Konturen an. «Dann hat das ganze Projekt, einen Weg für die Übertragung von Erinnerungen zu finden, also mit der Hoffnung zu tun, solche Momente könnten geteilt werden?»
    «Ja, aber es ist mehr als das. Der Grund, warum ich Wissenschaftler geworden bin – Sie wissen ja, ich war Arzt, habe aber schon immer die reine Wissenschaft angestrebt –, ist der, dass ich die Sehnsucht lindern wollte. Angefangen mit meiner eigenen, aber es war mir klar, dass ich nicht der Einzige bin. Die meisten – Physiker oder so – werden Ihnen sagen, wir seien alle mit dem Universum verbunden, mit etwas Größerem als wir selbst. Ich aber sage, warum versuchen wir nicht, diese entfernte Verbindung auf niedrigstem Niveau zu teilen? Ich sage, warum versetzen wir uns nicht wechselseitig in unsere Köpfe? Schlüpfen von Zeit zu Zeit aus uns selbst heraus und in jemand anderen hinein? Eine einfache Idee, aber mit unerhörten Folgen. Die Möglichkeit für wahre Empathie – stellen Sie sich vor, wie das die menschlichen Beziehungen verändern würde. Schon das allein reicht, um schlaflose Nächte zu verbringen.» Ray grinste. Seine Zähne waren makellos. «Oder um Sie in die Wüste zu schicken.»
    Sie hatten schweigend dagesessen, während Ray ihn forschend ansah. Samson wich aus, wandte seinen Blick der Aussicht zu. Er versuchte, das Rumoren seiner Gedanken in Schach zu halten, damit sich die Ungeheuerlichkeit all dessen, was Ray gesagt hatte, erst einmal setzen konnte. Er stellte sich vor, Annas Erinnerungen an ihn in sich zu haben, in seinen Kopf verpflanzt: sich zu fühlen wie sie , die sich an ihn erinnerte. Zu erfahren, wie es war, sich selbst zu erinnern.
    «Wir sind einander gar nicht so unähnlich, wir beide», hatte Ray schließlich gesagt. Samson straffte sich und sah dem Doktor in die Augen. «Finden Sie nicht auch, Samson?»
     
    Er tastete im Dunkeln nach dem Telefon auf dem Flurtischchen. Als es am anderen Ende klingelte, fiel ihm die Zeitverschiebung ein; in New York war es drei Stunden später, und Anna schlief wahrscheinlich schon. Ihm gefiel die Vorstellung, sie aufzuwecken, die Intimität des

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