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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Leitung, noch eine Minute, dann sei die Sprechzeit abgelaufen.
    «Meine Karte ist gleich alle …» Er hatte ihr von gestern Abend erzählen wollen, was er empfunden hatte. Nicht von Lana, sondern von dem Gefühl, das so schnell von diesem schlanken, fieberhaften Mädchen auf ihn übergesprungen und reines Begehren geworden war, sich ausbreitend wie ein Tintenklecks auf Papier.
    «Samson?»
    «Wenn du’s wissen willst, du hast mich meistens Annabelle genannt», sagte sie rasch, bevor sie auflegten. «Du hast irgendwelche Sachen drangehängt. Annabär. So dummes Zeug.»
     
    Als Samson wieder auf dem Beifahrersitz saß, gab Ray ihm einen Granola-Riegel und ein Rubbellos.
    «Hier, kratzen Sie die Kästchen frei. Bei drei Paaren haben Sie gewonnen.» Samson kratzte die Silberschicht mit dem Fingernagel ab.
    «Telefonzellenromanze?», fragte Ray mit einem Blick über die Schulter.
    «Meine Frau.» Es erschienen zwei Paare, aber das fünfte Kästchen war eine Niete.
    «Ahhh», sagte Ray, «Pech gehabt.»
    Es müsste einen Film geben, dachte Samson, eine schwarze Komödie, in der Ray Gott spielen könnte. Wohltätig. Allwissend.
     
    Ungetrübt von Erinnerungen ist die Wahrnehmung absolut klar. Jede Beobachtung hebt sich scharf ab. Am Anfang, wenn noch nichts verschmiert, die Tafel noch vollständig sauber ist, gibt es nur den gegenwärtigen Moment: jedes kleinste Detail, reine Farben, der Lichteinfall. Wie Standfotos. Der Geist vorbehaltlos offen für die Welt, tief von ihr beeindruckt, ja sogar verletzt; noch nicht von der Erinnerung verschleiert.
    Samson versuchte, Ray das zu erklären. Sie fuhren vom Highway ab auf eine zweispurige, ölbefleckte Teerstraße. In der Ferne ragte ein prähistorischer Vulkankegel auf. Er erklärte, wie seine Hände, mal die eine, mal die andere, manchmal plötzlich taub wurden. Vom Herzen abgeschnitten. Solche Dinge konnte er Ray sagen, einem gelehrten Doktor, der Mitgefühl besaß und helfen wollte. Einem Mann, der sein Leben der Wissenschaft verschrieben hatte, der verstand, was Entsagung bedeutete. Alles aufzugeben, auf einmal oder Stück für Stück. Das Religiöse daran. Sein Blut, das bis zu den Ellbogen floss und die Hände nicht erreichte. Er erzählte Ray von seinem eigenen Projekt, seit er zur Leere erwacht war, von dem Reiz, noch mehr aufzugeben, auf Frau und Heim zu verzichten, auf eine ganze Stadt, aufzugeben und aufzugeben, bis nichts mehr übrig blieb.
    Und dann? , fragte Ray.
    Hin und wieder zweigten unbefestigte Straßen mit Reifenspuren in Richtung der Berge ab. Ein Tal weiter waren noch Kettenabdrücke der Übungspanzer von General Patton zu finden. Auf dem Mond – das hatte er in einem Buch gelesen – bleibt eine Fußspur zwei Millionen Jahre unverändert. Kein Wind. Es gab Fossilien auf dem Wüstengrund, die Abdrücke eiszeitlicher Fische, wie ziseliert, Gräte um Gräte erhalten. Das Abwesende schöner als der verschwundene Fisch.
    Und dann? Wenn Sie alles aufgegeben haben, fragte Ray erneut, erregt aufs Steuer klopfend, jetzt bei Tempo hundertfünfzig, müssen Sie dann nicht das erste Zeichen setzen?
    Es war ein Gespräch, das sie wieder und wieder führten, bis Ray schließlich eine Bombe in seinem Kopf explodieren ließ. Doch in diesem Moment rasten sie ins Nirgendwo, und obwohl Samson noch nicht wusste, was Ray wirklich meinte, fühlte er sich irgendwie verstanden.
    Bald war ringsum nur noch flache Erde. Die Wüste ist eine Hungerkünstlerin, so erinnerte er Rays Worte; sie verzichtet auf alles. Später war er sich nicht sicher, ob Ray das jemals wirklich gesagt hatte; manchmal kam es ihm vor, als wäre Ray mitten in seinem Kopf.

H ey, willst ’n Bild von mir?» Donald trug einen verfilzten Bademantel aus Flanell und hielt die Arme vor dem Bauch verschränkt, als würde er sich gleich entblößen. «Was ist los, dass du kein Bild willst? Seh ich etwa nicht gut aus?»
    «Soll ich ein Foto machen?»
    «Sag ich doch.»
    Samson hob die Kamera und stellte die Schärfe ein. «Sag, wenn’s losgeht», sagte Donald und pflanzte seine Füße hin wie ein Schlagmann, der in Stellung geht.
    «Fertig: eins, zwei …»
    Donald riss den Bademantel auf und grinste. Er trug weiße Boxershorts mit einem gesprenkelten Muster roter Lippenstiftabdrücke. Um die Waden hatten Elastikstrümpfe Spuren hinterlassen, die Beine wirkten dünn und schmächtig unter dem mächtigen Leib, als gehörten die verschiedenen Körperteile unterschiedlichen Existenzen an.
    «He!» Allzu heftiges

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