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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Abziehbilder – manche fluoreszierend, andere durchsichtig, geschmückt mit Sehenswürdigkeiten aus Salt Lake City, Portland, Anchorage, Port Edwards oder Phoenix – ihn mehr Mitgefühl für Donald empfinden. Es war, als wäre er als Urlauber nach Clearwater gekommen. Er dachte an Donalds Augen: umsichtige Augen, die mehr aufnahmen, als sie ausdrückten, Augen, die schlecht zu den Personifikationen und dem Grundbesitz passten. Ihm fiel ein, dass er Donald gar nicht gefragt hatte, welche Erinnerung er der Wissenschaft stiften wollte; welches mächtige, unvergessliche Bild; welchen Strom neuronaler Impulse, der sodann nach Belieben des Labors verwendet werden durfte. Er wusste nicht einmal, was Donald über das ganze Clearwater-Projekt bekannt war; keiner von ihnen hatte es erwähnt. Nach allem, was Ray Samson erzählt hatte, speicherten sie derzeit eine von Donalds Erinnerungen auf einem kompakten Computer ab. Das Team hatte bereits eine Technologie entwickelt, um die Gehirnaktivität während des Erinnerungsvorgangs abzulesen und aufzuzeichnen, die Informationen aufzuschlüsseln und eine Abbildung der gesamten chemischen und elektromagnetischen Funktionen beim Erleben der Erinnerung anzufertigen. Woran sie noch arbeiteten, war die Frage, wie ein anderes Gehirn anzuregen sei, die gleichen Funktionen auszuführen – also wie eine Erinnerung übertragen werden könnte. Ray hatte Samson gebeten, nicht darüber zu reden; soweit er wusste, hatte Donald keine Ahnung, außer dass eine seiner Erinnerungen für die Zukunft aufgezeichnet wurde.
     
    Er ging nach draußen und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Wenn kein Mond da war, wie an diesem Abend, führten die Sterne ein wildes Regiment und blinkten zu Milliarden am Himmel. Früher oder später würde er aus dem Augenwinkel eine Sternschnuppe sehen, wie sie beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglühte. Ein paar Monate zuvor war ein leuchtender Meteor über dem Yukon aufgetaucht, und kleine schwarze Brocken waren in Kanada auf die Erde gefallen. Ein Mann, ein gewöhnlicher Laie, hatte sie aus dem Schnee geholt, kohlige Chondrite, die er in Plastiktüten steckte und einfror, bis die zuständigen Behörden jemanden schicken konnten, um sie abzuholen. Bruchstücke des Universums, die er neben dem Wildfleisch in seiner Gefriertruhe aufbewahrte, bis der Schnee schmolz und der UPS-Mann durchkam.
    Er schlug den Pfad ein, der am Labor vorbei die Hügel hinaufführte, sich durch die düsteren Umrisse der Felsformationen wand. Oben standen eine kaputte Couch und ein paar Stühle, wahrscheinlich von Kids hingeschleppt, die sich dort einen Treffpunkt eingerichtet hatten, als die Gebäude unten noch leer standen. Er zog eine Taschenlampe heraus und richtete den schwachen Strahl auf die Sternkarte, die er in der Stadt gekauft hatte: Eine Plastikscheibe mit einem drehbaren Deckblatt, Markierungen der Stunden und Monate und einer Karte der Konstellationen.
    Er dachte an den Moment in der letzten Sommerwoche vor seinem siebten Schuljahr, als er neben Jollie Lambird auf dem Rücken im Gras gelegen und seine Finger zu ihrer Hand ausgestreckt hatte, während sie Stier, Pegasus, Cassiopeia sagte und er wusste, er konnte weitermachen, bis die Liste zu Ende war. Als er ihre Finger berührte, flüsterte sie, Welches Sternzeichen bist du? Sein Herz pochte.
    Ich weiß nicht.
    Wann bist du geboren?
    Ich muss überlegen, wollte er sagen, gib mir Zeit, und schließlich fiel es ihm ein. Am 29. Januar.
    Wassermann.
    Wassermann, elftes Zeichen des Tierkreises, Sterne in Gestalt eines Wasser ausgießenden Mannes.
    Er leuchtete mit der Taschenlampe auf die Sternkarte und suchte irgendeinen Zusammenhang zwischen der dünnen Drehscheibe und dem gewaltigen, rauschenden Sternenzelt. Es dauerte eine Minute, ehe sich die wimmelnden Lichter zu unterschiedlichen Gruppen versammelten, Formationen, in denen die Alten Tiere, Jäger oder Wagen gesehen hatten. Er setzte sich auf die ausgeleierte Couch. Eine Fledermaus flog vorbei, hätte beinahe seinen Kopf gestreift. Er dachte über alles nach, was Ray ihm im Lauf der vergangenen Woche gesagt hatte. Unterhalb sah er das Labor liegen, hörte das entfernte Brummen des Generators. Er überlegte, wie er an einen so seltsamen und hinreißenden Ort gelangt war, dachte an all die unwahrscheinlichen Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten.
    Dann kehrten seine Gedanken zu Jollie Lambird zurück, zu jener Nacht, als er zwölf gewesen und

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