Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Einsamkeit.»
«Was, Sie glauben, ich sei einsam?»
«Sind Sie es denn?»
Samson zuckte die Achseln. Leiser Jazz kam aus der Stereoanlage und erinnerte ihn daran, wie er Anna einmal bei laufendem Radio summend und sich barfuß zu den Klagelauten eines Saxophons wiegend angetroffen hatte. Er betrachtete einen Briefbeschwerer auf Rays Schreibtisch, einen Seestern unter Glas. «Ich vermute, Sie werden wohl kaum einsam sein», sagte er, «mit so vielen Leuten um Sie herum, dem ganzen Team, das zusammenarbeitet.»
«Ich? Mein ganzes Leben bin ich einsam gewesen. Solange ich denken kann, seit ich ein Kind war. Manchmal machen die vielen Leute es nur schlimmer.»
«Wirklich? Dabei sieht es immer so aus …» Ray sah ihn abwartend an. «Egal, aber was ist mit Ihrer Frau? Sie waren doch verheiratet?»
«Wenn man jung ist, glaubt man, die Liebe sei die Lösung. Aber sie ist es nicht. Einem anderen Menschen nahe zu sein – so nahe man kann –, verdeutlicht nur die unüberwindliche Distanz, die zwischen einem liegt.»
Samson hob den Briefbeschwerer auf und schwieg. Er dachte daran, wie sein Großonkel Max ihn oft ins YMCA-Schwimmbad mitgenommen hatte, wie er Wasser getreten oder sich auf dem Rücken hatte treiben lassen, während Max am Beckenrand Beinübungen machte und ihm von der Liebe erzählte. Er sprach mit Samson wie mit einem alten Kumpel, einem der leberfleckigen Überlebenden, die gekommen waren, ein paar asthmatische Runden zu schwimmen, einen letzten Ausbruch von Tapferkeit zu zeigen, sprach ihn an wie einen Mann, der Wind und Wetter getrotzt hatte. Da war Samson kaum zwölf gewesen. Liebe , hatte Max gesagt, während er mit den Gichtzehen durch die Wasseroberfläche stieß, Liebe ist das Ziel der Menschheit. Nicht schtupn. Schtupn kannste immer. Aber Liebe, die ist nicht leicht zu finden, fuhr er fort, den linken Fuß senkend, während der rechte nach oben kam, ganz im Stil europäischer Bädergymnastik.
Er stellte den Briefbeschwerer ab und sah Ray an. «Ich weiß nicht. Wenn das Lieben die Menschen nur einsamer macht, warum wollen es dann alle so sehr?»
«Wegen der Illusion. Man verliebt sich, ist berauscht, und eine kurze Zeit fühlt man sich wie eins geworden mit dem anderen. Ein Herz und eine Seele. Man glaubt, man würde nie wieder einsam sein. Nur hält es nicht an, und bald wird klar, näher geht es nicht, und man endet bitterlich enttäuscht, so allein wie nie zuvor, weil die Illusion – die Hoffnung, an der man all die Jahre festgehalten hat – zerstört ist.»
Ray stand auf, und während er zum Fenster ging, bewunderte Samson, wie so oft, die perfekte Kleidung, die säuberlich zum Ellbogen aufgeschlagenen Ärmel seines gestärkten Leinenhemds, den messerscharfen Kniff in der Hose, ein von den Unbilden des Lebens unberührter Mann.
«Aber wissen Sie, das Unglaubliche an uns Menschen ist, dass wir vergessen», fuhr er fort. «Es vergeht einige Zeit, irgendwie kriecht die Hoffnung zurück, und früher oder später kommt jemand anders daher, und wir glauben, das ist der Richtige . Dann fängt die ganze Sache wieder von vorne an. So gehen wir durchs Leben, und entweder akzeptieren wir irgendwann die minderwertige Beziehung – man versteht sich nicht vollkommen, aber es läuft passabel –, oder wir streben weiterhin nach vollkommener Vereinigung, machen neue Versuche und scheitern erneut, lassen dabei eine Spur gebrochener Herzen hinter uns zurück, unser eigenes inbegriffen. Am Ende sterben wir so allein, wie wir geboren wurden, haben gekämpft, um andere zu verstehen, um uns verständlich zu machen, aber in dem versagt, was wir einst für möglich gehalten hatten.»
«Die Leute wollen das wirklich, wie sagten Sie, ein Herz und eine Seele sein? Total eins?»
«Ja. Zumindest glauben sie das. In Wirklichkeit wollen sie sich wohl in erster Linie anerkannt fühlen.»
«Aber meinen Sie nicht, dass allein sein irgendwie» – Samson rang nach dem richtigen Wort – «ich weiß nicht, irgendwie gut ist?» Er dachte an Anna, wie sie in Unterwäsche tanzte, mit einem T-Shirt, das ihr knapp bis an die Hüften reichte. Anna, wie sie aus dem Fenster schaute, einen Ausdruck auf dem Gesicht, den er nie gesehen hatte, der etwas von ihr verriet, was unerreichbar blieb. «Dass es eine Sache ist, jemanden zu lieben, aber wenn es bedeutet, den Teil von sich aufzugeben, der allein und frei ist …»
«Genau, das ist es!», rief Ray. «Wie kann ein Mensch allein sein, frei bleiben, ohne Sehnsucht zu
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