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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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noch abscheulich –, aber trotz der dunklen Stoppeln war es das Gesicht eines Mannes, der nicht abgeneigt wäre, einer alten Dame über die Straße zu helfen. Der sich, ihre pralle Handtasche an seiner Hüfte spürend, vorstellen könnte, damit durchzubrennen, nur um sich dann in seiner Nähe zu den Barbaren unbehaglich zu fühlen. Ein Gesicht, das nicht von Drogen oder schwerem Trinken aufgedunsen war, das gesunde Gesicht eines Siebenunddreißigjährigen (ein Geburtstag war gekommen und verronnen), der sich ausgewogen von allen fünf Lebensmittelgruppen ernährte und regelmäßig Sport trieb, wie es die Mitgliedschaft im West Side Racquet Club und die Fülle angegrauter Sportsocken und Nylonshorts mit luftdurchlässigem Innenslip, die er in seiner untersten Kommodenschublade gefunden hatte, bewiesen. Es schien den Glauben zu geben, das Gesicht eines Menschen spiegele gewisse Eigenschaften seines Innenlebens wieder. Damit versuchte er jetzt zurechtzukommen, das Gesicht als sein eigenes zu akzeptieren. Seit er im Krankenhaus zum ersten Mal sein Spiegelbild gesehen hatte, war es ihm vorgekommen wie etwas, das ihm folgte und versuchte, einen Eindruck von ihm zu vermitteln.
    Ein schönes Gesicht. Wenn nicht das eines Helden, so doch das eines Mannes, der das Potential besaß, die notwendigen Belastungsproben und das mörderische Training für einen Raketenstart mit Mondspaziergang durchzuhalten. Obwohl der Mond jetzt nichts mehr galt, wie er erfahren hatte, für hinterwäldlerisch gehalten wurde, während der Mars laufend für Schlagzeilen sorgte. Erst kürzlich hatte er im Time Magazine gelesen, der Global Surveyor, der den Mars aus dem Orbit erforschte, habe Abflusskanäle mit fächerförmigen Deltas entdeckt, die auf ein relativ junges Vorkommen fließenden Wassers auf dem Planeten schließen ließen; es sei anzunehmen, dass dieses Wasser sich noch vor einigen tausend oder gar einigen hundert Jahren auf oder nahe der Oberfläche befunden habe, Milliarden Jahre später als nach früheren Schätzungen. Die Nachricht war an die Presse durchgesickert, und Experten hatten sich unter der Bedingung geäußert, dass ihre Namen nicht genannt würden. Nichts Strömendes oder Sprudelndes, sagten sie, um Himmels willen keine Flüsse oder heißen Quellen, nur die Chance auf flüssiges Wasser. Doch wo Wasser ist, kann Leben sein, sagten sie in ihren Wohnzimmerkommentaren, später zitiert unter Bildern von der roten Oberfläche, auf der kleine Rillen, Furchen, Spuren zu erkennen waren.
    Er hatte New York vor kaum einer Woche verlassen, und schon entrückte ihm die Stadt, wurde Teil eines anderen Lebens, nicht notwendig mit dem verbunden, was vor oder nach ihr gewesen war. Das fand er am schwersten zu begreifen: den Zusammenhang des großen Ganzen, in dem die Welt sich nicht in kleinen Teilchen ereignete, nicht in Momenten der Erleuchtung eines sonst dunklen Bewusstseins bestand. Denn ungeachtet dessen, was er zu Donald gesagt hatte, waren die vierundzwanzig Jahre zwischen seinem allerletzten Eindruck aus der Kindheit und dem Erwachen unter der Krankenhausuhr nicht ausgelöscht. Im Gegenteil, sie existierten : leer, in Stille getaucht, mit nichts gefüllt als einem fernen Pulsschlag. Da, da war nur Zeit – nicht wie die Wachlebenden sie kannten, mit einem Vorher, Jetzt und Nachher, sondern Zeit als reine Dauer: hier, hier, hier.
    Das Wasser war abgekühlt, und der Dunst zog sich an die Ecken des Spiegels zurück, blieb in Fetzen hängen wie abgerissene Wolken nach ungnädigem Wetter. Er stand triefend auf, wobei ihm das Wasser nur bis zu den Waden reichte, Wasser zum Waten, hoch wie ein Planschbecken oder eine gelinde drohende Flut.
    Donalds kleiner Koffer stand auf dem Boden neben seinem Bett, dekoriert mit bunten Abziehbildern einer Reihe von amerikanischen und kanadischen Städten. Samson hatte den Koffer vorher noch nicht gesehen, und jetzt kamen ihm fast die Tränen über den unerschütterlichen Optimismus dieser Aufkleber, den Stolz und die extrovertierte Freundlichkeit der Geste. Halb wünschte er sich, er wäre mit nach Las Vegas gefahren, hätte die Nacht bei tropischen Cocktails unter einer Plastikpalme verbracht und zugehört, wie Donald ihm stolz von seinen Abenteuern in jeder einzelnen Stadt erzählte. Ob die Geschichten erfunden waren, ob Donald die Aufkleber alle auf einmal in einem Souvenirpäckchen am nächstbesten Kiosk gekauft hatte, war ziemlich egal. Es ging darum, ihm zuzuhören. Irgendwie ließen die

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