Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
empfinden, ohne sich in sich selbst gefangen zu fühlen? Das »– er stach mit dem Zeigefinger in die Luft – «ist es, was mich interessiert.»
    Er eilte herbei und zog seinen Stuhl neben Samsons. Er beugte sich vor; sein Gesicht war so nahe, dass Samson das Bedürfnis empfand, den Kopf zurückzuziehen, um die wenigen Zentimeter Abstand zu wahren, die als unausgesprochene Schranke dienten, eine kleine Spanne des Unterschieds, die Intimsphäre der Person. Sosehr er Ray mochte, sosehr er einen persönlichen Umgang mit ihm wünschte, die plötzliche Nähe machte ihn nervös.
    «Sie sind ein so ungewöhnlicher Fall», fuhr Ray fort. Wenn er Samsons Unbehagen bemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. «Nicht nur, was Ihnen zugestoßen ist, nicht nur Ihre Lage, sondern Ihre Reaktion auf den Gedächtnisverlust. Sie haben die Freiheit gewählt. Instinktiv haben Sie sich dafür entschieden. Einfach alles hinter sich gelassen und sich in ein neues Leben gestürzt.»
    «Ich hatte einen Tumor …»
    «Ja, gewiss, aber danach. Sie wollten es nicht zurück. Haben einfach alles von sich gewiesen. Keine Bindungen mehr, an niemanden. Es war … es muss erregend sein . Und jetzt haben Sie mit den Folgen zu kämpfen. Der Einsamkeit. Ich weiß es. Von Anfang an konnte ich es sehen. Gleich am ersten Tag, beim Abholen am Flughafen, sah ich es Ihrem Gesicht an.»
    Samson hob die Finger an sein Gesicht, als könnte er dort fühlen, welche Geheimnisse er vergeben hatte, Dinge, die Ray seiner Miene abgelesen hatte, ohne dass er selbst von ihnen wusste.
    Ray sprach, und er hörte zu. Die trockene Hitze, die Samson dösig machte, schien Rays Gedanken zu konzentrieren, ihnen klare, prägnante, von allem Überfluss befreite Strukturen zu verleihen. Es war faszinierend und beunruhigend zugleich, mit welcher Leichtigkeit und welchem Schwung er redete, als habe er es vorher geübt, jedoch ohne an Spontaneität zu verlieren. Offenbar hatte Ray eine unerhörte Gabe, den richtigen Augenblick zu nutzen. Er sprach über die menschliche Einsamkeit, über die wesenhafte Einsamkeit eines differenzierten Geistes, der Vernunft und Poesie pflegt, sich aber an jeden Strohhalm klammert, wenn es darum geht, andere zu verstehen, obgleich er sich der Unmöglichkeit absoluten Verstehens bewusst ist. Über die Schwierigkeit einer Person, die versteht, dass sie immer missverstanden werden wird.
    «Das Elend anderer Leute ist eine Abstraktion», beharrte Ray, «etwas, was man nur nachempfinden kann, indem man aus eigenen Erfahrungen schöpft. Aber wie die Dinge stehen, bleibt wahre Empathie unmöglich. Und solange dem so ist, werden die Menschen den Druck ihrer scheinbar einzigartigen Existenz ertragen müssen.»
    «Und einander quälen, nicht wahr?»
    Ray nickte. «Grauenhaft.»
    Der leise Jazz spielte weiter, und die Wüste draußen war Rays Bühne. Als Samson schließlich ging, im Stockdunkeln zum Badehaus stolpernd, spürte er eine Art Kitzel in der Magengrube, den Schauer einer Gänsehaut – nicht nur von den funkelnden Sternen und der plötzlich in der Luft liegenden Kälte. Trotz allem, was Ray gesagt hatte, war bei ihm das Gefühl zurückgeblieben, dass der Doktor ihn verstand und er seinerseits Zeuge einer Art Innenschau des Geistes eines anderen geworden war.

S amson ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen. Sobald die Sonne unterging, waren die Nächte noch empfindlich kalt, und er rutschte Zentimeter um Zentimeter ins kochende Bad, nicht vorbereitet auf den nächsten Ruck, der ihn ein wenig mehr eintauchte, jedes Brennen eine kleine Strafe in Vorbereitung auf das Lustgefühl. Das Wasser löste den Schweiß und Staub des Tages. Silberne Bläschen bildeten sich wie ein Quecksilberbelag auf seiner Haut, die unter Wasser einen grünlichen Ton annahm, gummihaft und unmenschlich. Schweißtropfen perlten ihm über die Stirn. Als der ganze Körper drin war, presste er die Augen zusammen, tauchte mit dem Kopf ein und lauschte seinem Unterwasserpuls in der ihn heiß umhüllenden Stille. So harrte er aus, die Luft anhaltend, bis er nicht mehr konnte, und als sein Kopf die Oberfläche durchbrach, blinzelte er und japste. Er beugte sich vor und rieb den Dunst vom Spiegel, bis sein Gesicht allmählich Gestalt annahm.
    Es war ein schönes Gesicht, nichts Ungewöhnliches, nur ein bisschen furchig von der Sonne; ein Gesicht, von dem niemand aus Missfallen den Blick abwenden würde. Er hatte sich ein paar Tage nicht rasiert – diese Gewohnheit fand er immer

Weitere Kostenlose Bücher