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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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über das Telefon legen und sagen: Erzähl mir, war ich ein Mann, der deinen Ellbogen ergriff, wenn Autos auf der Straße vorbeifuhren, der deine Wange berührte, wenn du sprachst, dein nasses Haar kämmte, auf dem Land am Straßenrand hielt, um dir Sternbilder zu zeigen, hinter dir stehend, damit du dich anlehnen und bequem nach oben schauen konntest? – und so fort mit einer Liste, die sie die ganze Nacht hindurch am Reden hielte. Aber er fragte nicht, weil er unsicher war, ob er die Antworten wissen wollte. Er hatte das Gefühl, hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, es sei besser, sie nicht zu wissen. Er wollte nur die Fragen stellen, als würde ihm schon durch die Sorge, gefragt zu haben, die Absolution erteilt.
    «Ich muss aufhören», sagte sie ruhig. Es folgte ein langes Schweigen, eine Stille, in die hinein sie beide atmeten, bis sie schließlich sagte: «Frank vermisst dich», und auflegte. Frank, der vielleicht aufblickte, als er seinen Namen hörte, und sich wunderte, warum er ausgerechnet jetzt genannt worden war.
     
    In dieser Woche kam auch ein Brief von Lana, lang und weitschweifig, in ordentlicher Handschrift auf ein loses, aus einem Notizbuch gerissenes Blatt geschrieben. Sie blieb den Sommer in L.A., hatte einen Job bei einem Regisseur gefunden und arbeitete bei ihm zu Hause, wo er den ganzen Schnitt machte, in einem Haus, das am Ende einer langen Schotterstraße lag und in dessen Innenhof tropische Pflanzen wuchsen, importiert aus Polynesien. Die Sache mit Winn laufe gut, schrieb sie, obwohl sie sich bei der Arbeit in einen anderen verknallt habe, einen Tontechniker, der ihr Kostproben von Donnern, Türenknallen und zersplitternden Fensterscheiben vorspielte. Er hatte aufgenommen, wie sie ans Telefon ging, und immer, wenn sein Computer muckte, kam das Geräusch eines klingelnden Telefons und dann ihre Stimme, die «Hallo?» sagte. Es sei etwas verwirrend, schrieb sie, ich meine, was ich für ihn empfinde , da sie ziemlich sicher sei, Winn zu lieben. Aber wie geht es dir, und was macht die Forschung? Kommst du nach L.A. zurück? Und am Ende des Briefes, direkt über dem Herzchen, das sie vor ihren Namen gemalt hatte, stand hingekritzelt Ruf mich an. Er konnte sich nicht erinnern, je ihre Handschrift gesehen zu haben, aber der Anblick der mädchenhaften Buchstaben löste einen kurzen, reißenden Schmerz in seinem Magen aus. Obwohl er versuchte, seine Gefühle für Lana zu verstehen, konnte Samson nicht genau sagen, was sie ihm bedeutete; er wusste nur, sie schien etwas in ihm aufgeweckt zu haben, was einige Zeit geschlafen haben musste.
     
    Es gab Zeiten, da fühlte auch Samson sich in glühende Erregung versetzt: an einer solchen Leistung mitzuwirken, an den Grenzen der Wissenschaft, sich unter Menschen zu bewegen, die nicht nur ins Gedächtnis der Geschichte eingehen, sondern durch ihre Arbeit möglicherweise die Natur des Gedächtnisses und der Geschichte selbst verändern würden. Die Tage vergingen, und er wartete, weil er gebraucht zu werden glaubte. Erst viel später, als es schon zu spät war, ging ihm der Terror des Ganzen auf: eine Zukunft, in der Gedächtnisse entführt werden konnten, in der die letzte, tiefste Intimsphäre ausgekundschaftet und an die Öffentlichkeit gezerrt werden konnte. In der es möglich war, Erinnerungen unwissentlich in das Gehirn eines Mannes zu laden, der alles vergessen hatte. Wer sonst gäbe einen so perfekten Wirt ab? Vierundzwanzig Jahre, die mit einem Schlag verschwunden waren: ein reines Vakuum. Es war diese Leere, die Samson zuerst Lavell beschrieben und die Ray so interessiert, ihn nach Lavells Anruf an jenem Oktoberabend lange wach gehalten hatte. Es war das erste Mal, dass Ray von einem Gedächtnisverlust hörte, der so beschrieben wurde, eine Tundra, eine überwindbare Entfernung. Aber falls Ray je mit den Dämonen rang, die am Ende seiner Arbeit warteten, so sprach er nicht darüber. Er sprach nur über die Schönheit des Teilens, und seine Begeisterung war ansteckend.
     
    Und dann? , fragte Ray. Sie waren im Auto gefahren, mit offenem Verdeck. Wenn Sie alles aufgegeben haben, wagen Sie es dann, das erste Zeichen zu setzen?
    Samson antwortete nicht. Er lehnte den Kopf an die Rücklehne, schloss die Augen und ließ Wind und Sonne über sein Gesicht streichen.

S ie waren drei oder vier Stunden gelaufen, ehe sie merkten, dass sie sich verirrt hatten. Donald war durstig, und Samson erzählte ihm von den Entdeckungen auf dem Mars, wo es

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