Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
bevor sie zu einem Date ging, ihren Finger in ein paar Lippenstiftröhrchen steckte und sich die Lippen anmalte, wobei die Farbkombination immer das gleiche leuchtende Rot ergab, das Streifen auf ihren Zähnen hinterließ. Wie gnadenlos sie bei Brettspielen war und was für eine Show sie abzog, wenn sie seine Freunde schachmatt setzte, und wie sie beim Autofahren nicht auf die Straße zu achten schien, sondern stattdessen ihr Make-up im Spiegel überprüfte oder unter dem Sitz nach einer Mautmünze kramte. Wie selten sie seinen Vater erwähnte, obwohl er sie ein oder zweimal überrascht hatte, als sie auf dem Fußboden ein Päckchen alter Briefe las. Wie ihr, wenn sie weinte, Tränen über das Gesicht strömten und sie den Mund aufmachte, aber kein Ton herauskam, als wäre sie erstaunt und sich im Unklaren darüber, wessen Gefühle da Besitz von ihr ergriffen hatten. Weil Anna diese Dinge über seine Mutter wusste, fühlte er sich an sie gebunden, ja ihr sogar zu Dank verpflichtet.
Er schlotterte vor Kälte und überlegte, ob er sich zu Donald legen sollte, um Körperwärme zu speichern. Aber der alte Mann hielt die dürren Beine abgespreizt, wie im Laufschritt zu Boden geschlagen, wie das erstarrte Opfer eines Lavastroms, in der Bewegung eingeschlossen, eine Haltung, die etwas Gebrechliches und Fixiertes hatte, und Samson rührte nicht daran. Ihm war zu kalt zum Schlafen, und er dachte an das Feuer, das sein Großonkel Max einmal am vierten Juli am Strand entzündet hatte, an das Spiel mit seinem Cousin, im heißesten Feuerkreis zu bleiben, bis sie regelrecht glühten und, wenn es in den Augen stach, sich umzudrehen und ins Meer zu stürzen. Er malte sich aus, dass er alle ihm bekannten Fakten seines Lebens bis zum Alter von zwölf Jahren sammeln und mit Hilfe einer komplexen Formel durch Multiplikation in die unvermeidliche Zukunft den exakten Verlauf seines späteren Lebens berechnen würde. Das ganze Leben ausgebreitet wie eine Modellstadt. In der Phantasie konnte er sein zwölfjähriges Ich bei der Hand nehmen – es aufwecken, die Hand noch schläfrig feucht –, mit ihm hinausgehen und wie von einer höheren Warte aus den kleinen, fernen Rest seines Lebens betrachten. Er fragte sich, ob der Junge das alles gutheißen würde: ob ihn ein ehrfurchtsvolles Schweigen überkommen würde, während er andächtig dastand, oder ob er vielmehr den Kopf abwenden und enttäuscht wegschauen würde, vielleicht sogar voller Abscheu oder Scham. Mit einer Träne im Augenwinkel, die er wütend mit der Faust wegwischte.
Einige Stunden später, in der Morgendämmerung, wachte er von dem über das Tal hereinbrechenden Licht und dem Geräusch eines in der Ferne vorbeifahrenden Autos auf. Donald lag wie ein Ball zusammengerollt im Staub. Samson setzte sich auf und horchte, dann lief er in Richtung des Geräusches. Binnen weniger Minuten fand er die Teerdecke. Ein von Kugeln durchlöchertes Verkehrsschild zeigte eine Geschwindigkeitsbegrenzung an. Er trat auf die Straße, ging bis in die Mitte und stellte sich auf die durchbrochene, verblasste gelbe Linie, das gepflasterte graue Band in beide Richtungen bis dorthin verfolgend, wo der Asphalt sich neigte und in einem Dunstschleier verschwand. Dort harrte er mehrere Stunden aus, bis die Sonne diffus und weiß am Himmel stand, und schließlich sah er ein Auto aus weiter Ferne langsam näher kommen. Er beobachtete es lange, wie einen Film ohne Plot, und als er die gebeugte Gestalt hinter dem Steuer sah, schwenkte er die Arme.
Er rannte durch die Büsche dorthin zurück, wo Donald mit dem Gesicht im Staub schlief, und stupste ihn sanft wach. Der alte Mann drehte sich um, und als die Sonne auf sein Gesicht fiel, lag er eine Minute still, dann sagte er, «Wer bin ich?», und schlug ein Auge auf.
S ie würden zu ihm kommen, und er würde ihnen seine Hände auf den Kopf legen. Er würde ihre Schädel unter seinen Fingerspitzen fühlen, die Wölbung mit den Handflächen umschließen und die Kräfte rufen, sie zu heilen. So hatte Ray es sich vorgestellt, als er noch jung war, erzählte er Samson. Noch bevor er sich im anatomischen Labor die Nächte um die Ohren schlug, mit Kopfschmerzen vom Formaldehyd zusammengesunken auf einem Stuhl im kalten Untergeschoss des medizinischen Instituts. Es gab Studenten, die mit dem Sezieren eines Arms oder einer Hand nicht fertig geworden waren und den Stummel einfach abschnitten, um ihn in Zeitungspapier gewickelt mit ins Wohnheim zu nehmen. Lernende, die
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