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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Thema meditierte. Er dachte an die ersten Tage nach der Operation, als ihn alles, was er sah, erschreckt und bewegt hatte. Er dachte an New York, an Frank und Anna, an die endlosen Spaziergänge, auf denen er versucht hatte, sich die Stadt und die Umstände seines neuen Lebens anzueignen.
    «Wieder mal Alzheimer lässt grüßen, was?» Donald schlug sich an die Stirn. «Dass dir nicht einfällt, was dich glücklich macht? Fängt ja an, mich zu deprimieren.»
    «Schon gut. Also, fürs Erste ist da Jollie Lambird.»
    «Jollie was für ’n Teil?»
    «Ein Mädchen.»
    «Na also.»
    «Das meiste sind Sachen aus meiner Kindheit. Angeln gehen mit meinem Großonkel Max. Mit ein paar Freunden Baseball spielen, draußen auf dem Feld, in der Nähe unseres Hauses. Die Sommer. Ich war ein glückliches Kind, jedenfalls zum größten Teil. Die Wievielte war Helen?»
    «Die zweite.»
    «Die lange Geschichte?»
    «Genau die.» Donald atmete schwer.
    «Wir haben Zeit, erzählst du sie mir?»
    «Lass mich mal verschnaufen, Sammy. Erzähl mir von Jollie. Kleine Französin, oder? Ich mag die Franzosen. ’n freies Volk. Die Frauen gehen oben ohne.»
    «Das war in meinem siebten Schuljahr, Jollie war zwölf. So flach auf der Brust wie ich selbst.»
    «Klingt ja toll», sagte Donald. «Weiter.»
    «Du hast’s immer mit den Titten.»
    «Jeder Kerl hat’s mit den Titten! Frag den Erstbesten, der dir über den Weg läuft, und er wird’s dir sagen: Titten, Titten, Titten! Manchmal Arsch. Und immer Muschi. Dass du das nicht drauf hast, macht mich kirre, Sammy. Du bist wie ’n kleines Kind. Da muss doch jemand her, der dir ein, zwei Sachen beibringt. Wenn wir lebend hier rauskommen, bring ich dich zuallererst in ’nen Puff. Zur besten Hure im ganzen gottverdammten Staat Nevada. Denn so, das ist einfach peinlich. Wenn du mein Sohn wärst – was du technisch bist, weil ich’s gesagt habe –, wäre mir das peinlich.» Donald schüttelte den Kopf. «Jetzt sprich mir nach: Titten, Muschi, Arsch! Titten, Muschi, Arsch! Tittenmuschia-»
    «Hör auf», sagte Samson, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte, und bombardierte die Büchse so heftig, dass sie über den Boden flog.
    «Na schön. Aber sag nicht, ich hätt’s nicht versucht.»
    Samson wartete, was als Nächstes kommen würde, aber Donald schloss nur die Augen und sackte still und erschöpft in sich zusammen.
    «Es gibt noch andere Sachen», regte Samson an. «Wenn es dich noch interessiert, es gab einen Strand in der Nähe von dort, wo ich aufgewachsen bin, da war ich oft mit meiner Mutter. Das wäre eine.»
    Sie saßen schweigend da.
    «Glaub nicht, ich hätte kein Verständnis», sagte Donald, «all die Erinnerungen, weg.» Er hustete und machte keine Anstalten, sich die Hand vor den Mund zu halten. «Das ist tragisch, so ganz ohne Erinnerung. Wenn ich könnte, würde ich dir meine geben. Ich hatte so viel gute Zeiten, genug für zwei. Für mehr als zwei. Was brauche ich die jetzt noch?»
    Samson sah ihm ins Gesicht, aber seine Augen waren immer noch geschlossen, und sein Ausdruck gab nichts preis.
    «Donald?»
    «Jaa.»
    «Darf ich dich was fragen? Was weißt du über Clearwater, was da eigentlich gemacht wird? Hat Ray es dir erklärt?»
    «Ich hab ’ne ungefähre Vorstellung davon.» Donald streckte sich auf dem Boden aus. «Aber was versteh ich schon von Wissenschaft? Ich geh hin, mache meinen Job und stell nicht so viele Fragen. Du dagegen, du stellst Fragen.»
    « Du hast mich eben gefragt …», sagte Samson, aber Donald schlief schon, unter Schwierigkeiten atmend, mit röchelnden Geräuschen aus der Kehle.
     
    Der Mond schien auf das abgestorbene Holz von Yuccas, die nicht modern wollten, glatt geschält wie Knochen. Irgendwo heulten Kojoten, und Samson versuchte sie sich als Hunde vorzustellen, ferne Verwandte von Frank, der mit dem Kopf auf den Pfoten vor dem Fußende von Annas Bett schlief. Donald schlief mit den Armen um den Felsen, an den er sich gelehnt und den er in Besitz genommen hatte, wie ein Schiffbrüchiger sich an ein Brett klammert. Ein alter Mann mit fürchterlichen Lungen im Herbst seines Lebens, einer düsteren, traurigen Zeit, die ein drastisch beschleunigtes Ende nehmen könnte, wenn nicht bald etwas geschah.
    Er betrachtete den alten Mann im Schlaf und empfand die grenzenlose Einsamkeit der Welt, von Mensch zu Mensch weitergereicht wie ein Wasserball auf einem Rockkonzert, um jeden Preis in der Luft gehalten, und jetzt war er dran. Vielleicht

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