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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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als löste sich sein Geist von ihm, als ließe er ihn fahren, und etwas in ihm wehrte sich dagegen, ein kleiner Teil, der laut gegen solche Verlassenheit protestieren wollte. Aber der Rest von ihm fühlte sich warm und schläfrig, gab zufrieden nach, als sein Geist zurückwich. Es war wie ein Traum mit offenen Augen: die Wüste, eine Straße, ein durch den weiten Raum fahrendes Auto.
    Und dann, aus dem Bildergewirr: Annas Gesicht. Blass und leuchtend, mit der kleinen Narbe über der Lippe, die sich, wenn sie sprach, auf der rechten Seite etwas höher hob und den ganzen Winter spröde gewesen war. Ein Gesicht, das er unter so vielen anderen ausgewählt hatte, es jahrelang anzuschauen, anzustarren. Es in jeder Lebenslage zu beobachten, bei der Arbeit oder im Schlaf, krank oder gesund, obgleich solche Wachsamkeit nichts hergab außer Fürsorge und Verwunderung. Ungeheure Freude durchströmte ihn. Wenn er gekonnt hätte, wenn er noch in der Lage gewesen wäre, seine Glieder zu finden und zu bewegen, wäre er auf die Knie gefallen. Es war ein Moment erstaunlicher Klarheit, und dann verfiel sein Geist in eine Verwirrung, die kein Ende nahm, bis die Explosion alles wegsprengte.

Drei

D as Licht weckte ihn auf, so ungetrübtes, helles Sonnenlicht, dass es nicht echt sein konnte, so konträr zu den Reden des Wetterkanals, die sich ununterbrochen um Regen drehten. Es vergingen einige Sekunden, ehe er sich erinnerte, wo er war. Als es ihm einfiel, überkam ihn eine Woge der Verzweiflung. Auf dem Fernsehschirm standen die aktuellen Temperaturen der Umgebung von Las Vegas, dann trat der Meteorologe vor das Satellitenbild und erklärte, immer wieder auf Florida und die Insel unter dem Winde klopfend, Sturmfronten und Jetstream. Samson stützte den Kopf in die Hände und kniff die Augen zusammen. Er stand auf, ließ die Jalousien herunter und taumelte ins Bad. Der Spiegel zeigte ihm ein graues Gesicht und glasige Augen mit tiefen schwarzen Ringen. Er nahm sein schlechtes Aussehen mit einiger Erleichterung zur Kenntnis, da es wenigstens bewies, dass er nicht alles nur phantasiert hatte.
    Er befand sich seit zwei oder drei Tagen in einem Motel in Vegas, wartete auf das Klingeln des Telefons und ließ den Wetterkanal laufen, weil ihn die Beständigkeit der Nachrichten beruhigte. Sobald er abschaltete, geriet er in Panik, rang nach Luft und konnte sich nicht anders beherrschen, als laut flehend im Zimmer auf und ab zu wandern. Er fühlte sich von einer unerhörten, unerträglichen Einsamkeit ergriffen.
    Eine halbe Stunde lang stierte er blind auf den Fernseher. Irgendwann verfiel er wieder in einen unruhigen, schweren Schlaf, während die Wetterberichte in sein Unterbewusstsein eindrangen und seine Träume sich mit Wind und Regen füllten. Es wird nass, warnte der Meteorologe, wir rechnen mit drei Zentimetern Niederschlag oder mehr, obwohl das Unwetter weit entfernt von Las Vegas tobte, wo die durchschnittliche Regenmenge gerade einmal zehn Zentimeter im Jahr betrug. Es stürmte anderswo, im Hurrikangebiet, wo die Häuser auf Stelzen standen. Was der Wetterkanal lieferte, war beständige Hellseherei und dies: Nachrichten vom Unglück anderer Leute.
    Bei seiner Ankunft in Las Vegas war er in sämtliche Hotels gegangen, die Donald erwähnt hatte – Sands, Flamingo, Caesars Palace –, aber niemand hatte je von Donald Selwyn gehört, nicht einmal die wortkargen Manager, die aus ihren Personalbüros kamen, um ihre Mitarbeiter zu entlasten, wenn Samson beharrlich blieb. Danach hatte er angefangen, Nachrichten auf Donalds Mailbox zu hinterlassen, die drei Tutzeichen abwartend, denen ein Rauschen wie von einer Windmaschine folgte, als habe Donald beim Besprechen des Bandes im Sturm an einer Klippe gehangen. «Hier ist Donald», sagte er mit strengem Gegenwind im Hintergrund, «Sie wissen, was zu tun ist.» Samson beschwor ihn, zurückzurufen, rief wieder und wieder an, bis die Bandansage ihn zu verfolgen begann, als versuchte Donald ihm unter gefährlichen Bedingungen heimlich etwas mitzuteilen. Sie wissen, was zu tun ist , und dann der ewige Piepton, den Samson ein Dutzend Mal hörte, bis er platzte und etwas von der Bombe brüllte, die in seinem Kopf hochgehe.
    Sie stand ihm mitten ins Gedächtnis geschrieben, die Erinnerung, die Ray ihm übertragen hatte; nichts führte an ihr vorbei. Die Bilder waren ihm unheimlich vertraut, als hätte er sie selbst erlebt, obwohl er wusste, dass dem nicht so war, und das ängstigte ihn umso mehr. Er

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