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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Körperteile durch die Nacht schleppten. Am nächsten Tag fanden die Müllmänner ein aufgeschlitztes Herz im Container und riefen die Polizei. Aber Ray hatte sich mit dem Nachtwächter angefreundet – er brachte ihm um Mitternacht ein Sandwich und Kaffee vorbei – und durfte im Labor arbeiten, bis die Schicht bei Tagesanbruch um war.
    Als Ray zum ersten Mal einen Schädel geöffnet, entlang der Schädelnaht gesägt hatte, waren ihm die Knie weich geworden. Er hatte das Gehirn vom Rückenmark abgetrennt und es in den Händen gehalten. Die graue Masse war keineswegs grau, sondern bräunlich. Um fünf Uhr morgens war er zu seinem Auto gewankt und nach Hause gefahren. Die Frau, die er später heiraten sollte, schlief in seinem Bett, das Gesicht in die Kissen vergraben und die Füße über Kreuz, wie ein Kind. Er betrachtete sie im Schlaf und kämpfte darum, sie so zu sehen, wie sie war, aber stattdessen sah er ihre Muskeln und Knochen. Durch die Haut hindurch sah er die Bänder zwischen ihrem Oberschenkelknochen und dem Schienbein, das faserige Nervennetz und die fein verästelten Lungen, sah das reine Herz Blut durch ihre Arterien pumpen. Es erschreckte ihn, wie leicht diese Systeme versagen konnten. Er setzte sich auf die Bettkante und legte ihr die Hand auf den Kopf, über die Wölbung des glänzenden schwarzen Haars. Sie drehte sich um und sah ihn an, und einen Augenblick schien sie sein Gesicht nicht zu erkennen.
    Nach dem Abendessen gingen Ray und Samson ein Stück spazieren; ein paar gemächliche Schritte nach dem Essen gehörten zu Rays Gesundheitsregeln. Nicht weit, nur den Weg bis zur Toreinfahrt und wieder zurück, während die Berge im schwindenden Licht dunkle Flecken bekamen und die ersten Fledermäuse ausschwärmten. Manchmal, wenn er Ray zuhörte, glaubte Samson zu verstehen, wie Menschen einem Kult verfielen, beschlossen, alles aufzugeben, um einem charismatischen Führer zu folgen, in Kleinbussen schliefen, an Straßenecken Schriften verkauften, mit Glöckchen tanzten. Singend und mit Bildern in den Taschen, die ihren Guru zeigten: einen Mann mit schütterem Haar und getönter Brille, den Arm ewig über ihren Köpfen schwebend zur Absolution erhoben, einen Mann, der sich über ein dicht vor die Lippen gehaltenes Mikrophon an die Massen wandte, den Widerhall nutzend, um den dramatischen Effekt zu steigern. Wie sie für diesen Mann arbeiten gingen, das Geld abgaben, wenn sie etwas Kunstgewerbliches verkauft hatten, komplizierte, in mühsamer Feinarbeit selbst gemachte Sachen aus Bast. In manchen Augenblicken, wenn Ray in Hochstimmung war und wie erleuchtet schien, konnte Samson fast verstehen, dass Leute mit Familien, Doppelgaragen und guten Jobs ihren ganzen Besitz dem Guru übereigneten und ihm in einen Tropenwald folgten, um eine Stadt mit einem nichts sagenden, ominösen Namen zu gründen. Er hatte darüber gelesen; solche Dinge passierten wirklich.
    Eine Woche war vergangen, seit Samson und Donald sich in der Wüste verirrt hatten und von Ray gerettet worden waren. Ray hatte sich auf die Suche gemacht, die Straße abgefahren, bis er Samsons schmale Gestalt auf den Asphalt treten sah. Während der Rückfahrt zum Labor war Donald still gewesen, eine Plastikflasche Wasser auf dem Schoß, aus der er alle paar Minuten gierig trank, schauernd, als wäre es Whiskey. Mit Dreckstreifen im Gesicht, wirkte er gedämpft und geläutert wie jemand, der gerade dem Tod ins Auge gesehen hat. Er blieb noch einige Tage in Clearwater, um zu Ende zu bringen, was immer sie im Labor von ihm wollten, verstört und bei jedem Husten sichtlich von Schmerzen geplagt. Als er Ende April an einem klaren, blauen Freitag schließlich abreiste, versicherte er, Samson könne sich darauf verlassen, dass alles in Ordnung sei, solange er nicht von irgendwelchen Rechtsanwälten höre. Sollte er plötzlich ins Gras beißen, würde Samson es sofort erfahren, weil er dann kommen und seinen Anspruch auf das Grundstück geltend machen müsste. Samson sagte ihm, er rede Unsinn, aber Donald packte ihn einfach und drückte ihn an seine Brust, so kräftig, wie es sein geschwächter Zustand kaum vermuten ließ.
    «Guter Junge. Tu mir ’n Gefallen, Sammy, mir geht was durch den Kopf. Sorg dafür, dass meine Schwester mich nicht auf einem dieser Steinäcker mit lauter Greisen begraben lässt. Und wo ich schon beim Thema bin, Einäscherung, das wär’s. Ganz natürlich, die Asche in alle vier Winde verstreut. Glaubst du, du kannst das

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