Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
spürte er auch seine eigene, persönliche Einsamkeit, eine verlassene, irrende Sehnsucht, die niemand je teilen würde, und das zu wissen schürte die schon bestehende Einsamkeit, dehnte sie aus und verwischte ihre Grenzen, bis sie alles umfasste. Die Berge und die verkrüppelten Bäume, die leuchtenden, mit Händen greifbaren Sterne, die Kojoten und die Starkstromleitungen und den noch stärkeren Beifußgeruch. Er wusste, irgendwo in der Nähe gab es Spuren: Indianerpfade, Hinterlassenschaften der Paiutes oder der Shoshonen, die fahrbaren Wege der 49er Goldsuchertrecks, Spuren der Feldmäuse, die wie Striche durch das Gras zum bitteren Wasser führten. Spuren, die ihm, wenn er sie fände, den Weg durch die Berge weisen könnten, aus dem Staat hinaus, einem grüneren Land entgegen. Aber er war zu müde, um weiter zu suchen.
    Es war das Gefühl, an einer großen Leistung mitzuwirken, eine Rolle zu spielen, die kein anderer erfüllen konnte, das ihn zur Teilnahme an dem Projekt bewegt hatte. Es war Rays Glaube an den hehren Zweck, an den größeren Zusammenhang. Es war seine uneingeschränkte Bereitschaft, Samson als den zu akzeptieren, der er war, nicht damals , sondern jetzt.
    Er lag auf dem Rücken, Donalds Atem lauschend, und dachte an seine Kindheit, und bald dachte er an seine Mutter. Ein Verlust, der fast zu schmerzlich war, ihn sich bewusst zu machen, erträglich nur hier, unter dem Gewölbe der Stille und Verschwiegenheit der Wüste. Es war, als hätte er geschlafen, während sie starb, oder schlimmer noch, als hätte er sich auf einer Party totgelacht. Sie waren immer zusammen gewesen, sie beide. Es war, als hätte er die Augen geschlossen, und als er sie wieder aufmachte, war er alt, und sie war fort. Als hätte sie ihm all ihr Wissen beigebracht und dies wäre die Schlusslektion gewesen, diejenige, auf die alle anderen ihn vorbereitet hatten. Jedes Ding auf der Welt zu betasten und zu fühlen, sein Aussehen und seinen Namen zu kennen und es sich dann mit geschlossenen Augen vorstellen zu können, sodass etwas Verschwundenes an den Formen seiner Abwesenheit erkennbar bleibt. Und das Verlorene bewahrt werden kann, weil Abwesenheit das einzige Konstante ist. Weil der Mensch sich von allem befreien kann, außer von dem Raum, den die Dinge einmal eingenommen haben.
    Er lag auf dem Boden der südlichen Mojave-Wüste und erinnerte sich an seine Mutter, und jetzt flossen ihm Tränen über das Gesicht, sein Gesicht, das, obwohl es ihm nicht bewusst geworden war, seine ganze Einsamkeit preisgegeben hatte. Zusammengerollt auf dem Wüstenboden unter den ungerechten Sternen, still beweinend, was er vergessen hatte und nicht ändern konnte, ließ er den einzigen Erinnerungen, die er besaß, freien Lauf. Und während er sich erinnerte, lag Anna vielleicht in New York, wo die Straßenlaternen schon vor dem diesigen Licht verblassten, zwischen weißen Laken in ihrem Bett und erinnerte sich an ihn. Vielleicht gab es eine Art kosmischen Ausgleich, durch den der eigenen Last bei jeder freigesetzten Erinnerung an andere eine Bürde hinzugefügt wurde.
    Eine Felsmasse zeichnete sich in einer Entfernung von ungefähr einem oder auch zehn Kilometern ab, es war schwer einzuschätzen. Und dahinter waren andere Felsen, Spitzkuppen und Flanken und reine Sandsteinflächen mit geheimen Lithologien, entstehende oder vergehende Gebirgsketten, vorläufig landumschlossen, die nicht wegbrechen und in die Dunkelheit des Meeres eintauchen konnten wie Teile Kaliforniens.
    Seine Mutter musste Anna gemocht haben, graziös, wie sie war, mit ihrem übermütigen Lachen, wenn es denn gelang, sie zum Lachen zu bringen; die Tochter, die sie nie gehabt hatte. Es überraschte ihn immer noch, wenn Anna Dinge über seine Mutter wusste; Dinge aus eigener Beobachtung, aber auch Einzelheiten, die sie nicht wissen konnte, die er ihr erzählt haben musste. Wie man sofort merkte, wenn seine Mutter in einem Raum gewesen war, weil der Duft eines teuren Parfüms in der Luft hing, der einzige Luxus, pflegte sie zu sagen, den sie sich immer leisten würde, auch wenn sie bettelarm wäre. Wie radikal ihre politischen Ansichten waren und wie leidenschaftlich sie mit jedermann darüber diskutierte. Wie sie sich der Sachen annahm, sie mit Klauen und Zähnen verteidigte, Demonstrationen und Meetings organisierte, von denen sie erschöpft, aber ermutigt nach Hause kam, mit glänzenden Augen und einem Heiligenschein zerzauster Locken um das Gesicht, wie eine Irre. Wie sie,

Weitere Kostenlose Bücher