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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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verbranntem Fleisch einatmen. Haben Sie schon mal brennendes Menschenfleisch gerochen?»
    Er machte eine Pause, tat so, als müsste er scharf nachdenken, obwohl er ziemlich sicher auch bei voller Gedächtnisleistung nicht zu zögern gebraucht hätte.
    «Nein, ich glaube nicht.»
    Trotz ihrer anfangs misstrauischen Miene redete sie erstaunlich bereitwillig, eine erfahrene Weltenbummlerin, die das Gesprächsbedürfnis anderer zu verstehen schien.
    «Es ist ein beißender, fast süßlicher Geruch», erklärte sie. «Die Leichen werden in goldenes Papier gewickelt dorthin gebracht. Und alle sind glücklich, weil eine Seele in die Freiheit entlassen wird, wissen Sie, alle werfen diese wunderschönen Blumen, und der Bootsmann nimmt, was von der Leiche übrig ist, bringt die Asche mitten auf den Fluss. Und vielleicht fünf oder sechs Meter stromabwärts hockt jemand im Wasser, wäscht seine Kleider oder putzt sich die Zähne. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen Leben und Tod, es ist ein einziger ununterbrochener Kreislauf. Und dann sitzt man da und denkt, ob das gesund ist? Werden sie sich nicht irgendeine scheußliche Krankheit fangen? Und dann geht man wieder ins Zimmer, wo noch mindestens zehn andere Leute sind, und kriecht in sein kleines dreckiges Bett und weint, weil einem bewusst wird, dass man diesen Zustand der Erleuchtung, in dem einen Keime und Krankheiten nicht mehr interessieren und man sich einfach auf die Macht des Brahman verlässt, wohl nie erreichen wird. Weil man in Amerika in einem hübschen, sauberen Haus mit Eltern aufgewachsen ist, die versucht haben, einen zu beschützen, und einem am Ende nur alles kaputtgemacht haben, und das wird man nie los. Egal, wie man sich anstrengt, man schafft es nie, sich in diese Yogapositionen zu verbiegen, in denen sogar Bettler auf der Straße sitzen, die Beine hinter den Kopf gelegt.»
    «Weil man aus Amerika kommt.»
    «Und vollständig unflexibel ist. Also sitzt man einfach nur im Bett und weint, und dann merkt man ziemlich bald, man hat ein Jahr, wenn nicht sogar mehr, in Indien verbracht, ist vollständig erschöpft, angewidert vom Curry und dem Unrat auf den Straßen, und man ist zum Verrecken einsam.»
    «Und auf einmal scheint Jesus als der einzige wahre Freund gar nicht mehr so abwegig.»
    Überrascht sah sie zu ihm auf. «Sind Sie Christ?»
    «Nein.»
    «Was sind Sie denn?»
    «In der Krise.»
    Sie nickte mitfühlend.
    «Dann haben Sie sich also ins Flugzeug gesetzt und sind zurückgekommen?», fragte er.
    «Am Ende ja, aber es hat eine Weile gedauert. Ich musste mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass es nichts bringen würde. Ich hatte das College aufgegeben, mein ganzes Zeug verkauft, um die Reise zu bezahlen. Meine Eltern waren natürlich begeistert. Und privat hatte ich die Brücken ziemlich gründlich hinter mir abgebrochen. Meine einzigen wirklichen Freunde waren die Leute, mit denen ich in Indien herumgehangen hatte, aber im Rückblick muss ich sagen, die meisten hatten sie nicht mehr alle.» Sie tippte sich mit dem Finger an den Kopf. «Ich habe viel Radio gehört, auf einem kleinen Kurzwellentransistor, den mein Vater mir mal geschenkt hatte. Meistens bekam ich den World Service oder die Voice of America, aber ich mochte auch die lokalen Sender. Sitars und so. Seifenopern auf Hindi, aber schon die Klänge dieser Musik, schmelzend und nie abreißend, faszinierten mich. Eines Tages suchte ich die Kanäle ab und fand einen Sender, eine amerikanische Stimme, die über Gott sprach.»
    «Über Jesus Christus», fügte Samson hilfsbereit hinzu. Es war nicht so schwer gewesen, sie aus sich herauszulocken, und er wollte nicht, dass sie jetzt wieder dichtmachte. Sie hatte etwas Unstetes an sich, als könnte sie jeden Moment abbrechen, erlöschen wie ein flackerndes Licht.
    «Er nannte ihn Christus unser Retter. Ich sank auf den Boden und hörte zu. Der Mann, dieser Prediger, hatte eine wunderbare Stimme. Sehr innig, als spräche er mit mir allein. Er führt eine Gruppe an, die Calvary Chapel, und er las aus dem Buch Hiob. Ich lauschte, bis er nicht mehr auf Sendung war. Am Ende habe ich nur noch geschluchzt, und am nächsten Tag ging ich mir eine Bibel besorgen. Ich habe das Programm drei Wochen hintereinander jeden Tag gehört, und dann fuhr ich nach Hause.»
    «Nach Hause?»
    Sie sah aus dem Fenster, blinzelte in das grelle Licht. «Brookline, Massachusetts.» Er konnte fast ihrer Stimme anhören, wie grün es dort war, die kummervollen

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