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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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ihrem Leben endlich ohne ihn voranzukommen schien. Er hatte ihr während ihrer Arbeitszeit eine Nachricht hinterlassen, er sei nicht mehr in Clearwater und werde voraussichtlich eine Zeit lang nach Kalifornien zurückgehen. Das Letzte, was er wollte, war, dass sie sich Sorgen machte, er wäre wieder verschwunden.
    Einige Fahrgäste folgten, dann stieg der Fahrer ein und ließ den Bus an. Als er langsam vom Parkplatz rollte, hing Samsons Blick noch immer an dem Mädchen. Plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, mit ihr zu reden. Aufspringend brüllte er, der Bus solle halten. Die wenigen Menschen in der Nähe beobachteten stumm, wie er ihm stolpernd und die Arme schwenkend hinterherlief. Münzen fielen ihm aus den Taschen und flogen über den Boden. Er rannte nebenher, als der Bus auf die Straße rumpelte, bearbeitete ihn mit den Fäusten, und sogar nachdem er angehalten hatte, nachdem klar war, dass der Fahrer seinen Schrei ge- und erhört hatte, trommelte Samson noch gegen die Tür, nicht weil er irre gewesen wäre, sondern weil er es zunehmend genoss, sich gehen zu lassen. Eindruck machen , dachte er mit einem Gefühl bemerkenswerter Klarsicht, als der Fahrer die Tür öffnete und auf ihn hinunterstarrte.
    Langsam, theatralisch, wie ein doppelt so alter Mann hievte sich Samson die Stufen hinauf. Er gab dem Fahrer zwei zerknüllte Zwanziger – ohne eine Ahnung zu haben, wie viel ein Ticket kosten mochte –, worauf dieser mürrisch das Gesicht verzog. Samson strafte ihn mit einem Seitenblick ab und wandte sich den Sitzreihen zu. Die fünf oder sechs Fahrgäste starrten ihn an. Er hielt am Anfang des Mittelganges inne, damit sie ihn ins Auge fassen, sein Leid erschnuppern konnten wie ein Rudel Wildhunde. Was hatte er zu verbergen? Sollten sie ihn ruhig verschlingen. Er erwiderte jeden Blick, während er nach hinten zu dem Mädchen ging, sich wie ein Verwundeter von Lehne zu Lehne hangelnd. Auch sie starrte ihn beunruhigt an. Er setzte sich neben sie, zog seine Jacke aus und faltete sie ruhig auf seinem Schoß zusammen. Das Mädchen wandte das Gesicht wieder dem Fenster zu. Ein unangenehmer Geruch wehte von irgendwoher, und Samson merkte, es war sein eigener, keineswegs kranker, sondern schierer Körpergeruch. Da ist jetzt nichts zu machen , dachte er und sah herausfordernd den Fahrer an, der am Anfang des Ganges stand. Ihre Blicke trafen sich, und einen Augenblick schien der ganze Bus den Atem anzuhalten.
    «Was?», fragte das Mädchen.
    Samson hatte nichts gesagt, drehte sich jetzt aber um und sah ihr ins Gesicht.
    «Darf ich mich hier hersetzen?»
    «Schon gut.»
    Sie wandte sich wieder zum Fenster, die Hände gefaltet im Schoß. Aber indem sie die Stimme erhob, hatte sie die Dinge offenbar bereinigt, denn der Fahrer setzte sich kopfschüttelnd wieder ans Steuer und lenkte den Bus auf die Straße. In ihre Sitze versunken, schienen auch die anderen Passagiere Samson zu vergessen. Nur das Mädchen konnte ihn wegen seiner Nähe, seines Geruchs – weil er sie ausgewählt hatte – nicht ignorieren. Sie drückte sich ans Fenster, aber je mehr sie wegschaute, umso besser wusste er, dass sie ihn abschätzte. Er wollte reden, Sachen an ihr ausprobieren, mit einer üben, die so sehr wie ein junges Traumbild seiner Frau aussah.
    Sie trug ausgefranste braune Kordhosen und ein schlackerndes gelbes T-Shirt, das über Haut und Knochen hing. Entweder gehörte es jemand anderem, oder sie hatte drastisch abgenommen. Ihr Haar wirkte wie gerupft und abgesägt. Um ihren Hals hing eine Schnur mit einem Kruzifix.
    Als Las Vegas hinter ihnen zurückblieb und entschwand, bückte sie sich und zog ein kleines Buch aus dem Rucksack zu ihren Füßen. Es war viel gebraucht, die Seiten zerfleddert und geknickt. Die heilige Bibel stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag. Das Mädchen legte schützend die Hände um das Buch, hob es ans Fensterlicht. Samson beobachtete, wie sie las und lautlos die Lippen bewegte. Er zermarterte sich das Hirn, ob ihm nicht etwas, irgendetwas dazu einfiel. Immerhin war er Literaturprofessor gewesen, er musste das Neue Testament so gut gekannt haben wie jeder Christ, musste sich die blutigen, fanatischen Tode der einzelnen Heiligen so tief eingeprägt haben wie ein Fan die K.   O.s berühmter Boxer, ob durch Feuer, durch Wasser, ob durch innere Blutungen nach einem schnellen Jab in den Magen.
    «Ist die gut?»
    Das Mädchen drehte sich um, blinzelte durch die Haarsträhnen, die ihr ungleichmäßig ins Gesicht

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