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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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und ging nach oben ins Bett. Aber das Bild von der Taufe spukte ihr im Kopf herum, und sie wurde es nicht los. Am nächsten Tag zog sie einige Erkundigungen ein, und als sie ihren Eltern eine Woche später zum zweiten Mal Adieu sagte, wandte ihre Mutter die Augen von dem gekreuzigten Christus ab, den Pip seit neuestem um den Hals trug. Ihr Vater, der seine Entrüstung nicht verhehlte, fragte, ob sie ihr härenes Hemd eingepackt habe. Gegen fünf Uhr nachmittags würde er im Club seine Drinks herunterschütten, erleichtert, wieder zu der alten Vision von seiner Tochter zurückkehren zu können, die über den Rasen eines Colleges in New England hüpfte, um einen jungen Mann mit kräftigen Wangenknochen und einem festen Händedruck zu treffen, der vielleicht Pierce hieß.
    «Was haben Sie gesagt, an wen ich Sie erinnere?», fragte sie halb abgewandt, als hätte sie das Interesse an der Antwort schon verloren. Es reichte, dass sie ihm das Haar abschnitten, aber ihm die Augen auszustechen? Vorsichtig schob er seine Hand in ihre. Sie schien keinen Anstoß daran zu nehmen, ihr behagte die Intimität, die manchmal ohne irgendwelche Ansprüche zwischen Fremden entsteht.
    Sie kamen aus der Wüste in das weite Netz der immer gleichen Siedlungshäuser. Ihre langen Finger zuckten, die Nagelhäute waren zerfetzt. Die Sonne schien durch das staubige Fenster.
    Sie schlief ein, der Kopf fiel ihr vornüber auf die Brust, die Bibel klemmte zwischen ihren Knien. Samson zog die Objektträger aus der Jackentasche. Er hauchte sie an und rieb die Schlieren mit einer Ecke seines Hemdes ab. Die zarten Gewebeproben waren wie Fingerabdrücke von der Hand des Schicksals. Sein Großonkel Max war ein Hobbykünstler gewesen, dessen ganze Leidenschaft einer italienischen Stadt galt, die er aus der Vogelperspektive zeichnete. Max stammte aus Deutschland, hatte aber als junger Mann ein Jahr in Italien gelebt. Zwei oder dreimal war er dort mit einem Heißluftballon gefahren. Jahre später fing er an, die Stadt, in der er gelebt hatte, aus dem Gedächtnis zu zeichnen – Straßen, Kirchen, Plätze, alles mit mathematischer Genauigkeit. Als Kind hatte Samson diese Zeichnungen bewundert, und irgendwie fühlte er sich durch die Proben mit ihren komplizierten Kreuzschraffuren daran erinnert.
    Er betrachtete die Gewebeflecken, selbst produzierte Materie aus seinem Gehirn. Es ist etwas Unheimliches und Wundersames daran, dachte er jetzt: der dimensionslose, unkörperliche Geist schafft körperliche Dimensionen. Vor einem Jahr war Samson in ein Loch gestürzt, durch eine Falltür zu einem Ort, der Höhe und Breite, Länge und Perspektive zu haben – der bewohnbar schien. Er war gestolpert und in der unberührten Geographie des Geistes gelandet. Aber von Anfang an hatten Erinnerungen die Leere bestürmt, ihn in die Welt zurückgezwungen. Sein Gedächtnis hatte sich mit Trümmern von Erinnerung gefüllt und dann die letzte Stufe der Erniedrigung erfahren: es war aufgebrochen und verwüstet worden. Was Ray nicht hatte sehen wollen, war, dass der Geist keinen anderen Geist neben sich erträgt, egal wie groß der Wunsch sein mag, verstanden zu werden. In das Bewusstsein eines anderen einzudringen und dort eine Fahne aufzupflanzen war ein Verstoß gegen das Gesetz der absoluten Einsamkeit, auf dem dieses Bewusstsein beruhte. Es war eine Bedrohung, vielleicht sogar eine unwiderrufliche Beschädigung der lebenswichtigen Abgeschiedenheit des Selbst. Diese Überschreitung war unverzeihlich.
    Pip regte sich im Schlaf.
    Und doch, was bedeutete es, geliebt zu werden, fragte sich Samson, wenn nicht, dass der andere einen verstand? Dass man sich zutiefst vom anderen berührt fühlte? Er dachte darüber nach, wer er vor dem Tumor gewesen sein mochte, erzählte sich die Geschichte seines alten Lebens wie ein trauriges Märchen. Es war einmal, da liebte er eine Frau, deren Körper er in seinen Händen gehalten hatte, vielleicht erstaunt darüber, dass solche Berührung keine Spuren hinterließ. Als er die Nachttischlampe anknipste, hatte er sie makellos gefunden. Der Klang ihres Namens war durchlässig, von beiden Seiten gleich, Anna , ein Spiegelbild, ein doppeltes Echo, an dem sich nichts festmachen ließ. Vielleicht hatte er sie zu sehr geliebt, seine Unfähigkeit gespürt, ihr nahe genug zu kommen; gespürt, dass er sie, solange sie eine getrennte Person blieb, nur in Grenzen kennen konnte. Und weil ihr Innerstes immer ausschließlich ihr gehören würde, weil es ihm

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