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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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fielen. Er unterdrückte den Impuls, das Haar beiseite zu schieben. Sie hatte nicht das Gesicht einer Gläubigen; es war entschieden zu misstrauisch.
    «Die Bibel ?», fragte sie.
    Er hatte seine Fähigkeit, andere aus der Fassung zu bringen, erst kürzlich entdeckt; zur Zeit seines größten, überragenden Triumphes – als er aus New York verschwunden und ohne Gedächtnis in der Wüste wieder aufgetaucht war – war er nicht bei Sinnen gewesen. Der Schock musste von einer nicht mehr messbaren Größenordnung gewesen sein, und Anna allein hatte ihn erlitten.
    «Die Bibel, ja. Finden Sie die gut?»
    Sie schloss das Buch und wandte sich ihm zu. Abgesehen von der Form ihres Gesichts und dem dunklen Haar, war die Ähnlichkeit zu Anna aus der Nähe betrachtet doch nicht so groß. Sie hatte eine breite, flache Nase, die ihrem Ausdruck eine gewisse Dreistigkeit verlieh. Aber da war auch etwas – eine Zerbrechlichkeit vielleicht, oder ein feines Wahrnehmungsvermögen –, das sie mit seiner Frau teilte.
    «Ob ich sie gut finde? Ich glaube, darum geht es ja wohl nicht.» Ihre Nasenlöcher weiteten sich, während sie sprach, dann wandte sie sich ab und malte ein paar Buchstaben an das schmutzige Fenster. Sie hatte lange, schmale, aristokratisch wirkende Finger, obwohl die Nägel stumpf und dreckig waren.
    «Und worum geht es?»
    Sie sah ihn aus schmalen Augen an, musterte ihn. Sie schien mit der Entscheidung zu ringen, ob sie den Platz wechseln sollte. Durchs Fenster flog die Wüste vorbei.
    «Um das Heil. Die Erlösung», sagte sie schließlich nüchtern. Sie hob einen schlanken, sakral gereckten Finger an den Mund und kaute hingebungsvoll auf einem Stückchen eingerissener Nagelhaut. «Die Ehre Gottes. Des Pilgers Seelentrost.»
    Nicht nur schmuddlige Fingernägel, auch das Gesicht sah ungewaschen aus. Wahrscheinlich hatte sie seit Tagen nicht geduscht. Samson fragte sich, ob nicht eher sie und gar nicht er den Geruch verströmte. Vielleicht auch sie beide, zwei muffelnde Pilger hinten im Bus.
    «Großartig. Lesen Sie mir etwas vor?»
    «Im Ernst?»
    «Sicher. Wer will das nicht, Heil, Erlösung? Auf jeden Fall. Geben Sie mir die Ehre. Ich sterbe vor Verlangen.»
    «Wenn Sie sarkastisch werden …»
    «Wieso sarkastisch? Ich hätte mir vorhin fast den Hals gebrochen, so bin ich dem Bus hinterhergerannt, um mit Ihnen zu reden. Egal, was Sie mir erzählen oder vorlesen wollen, mir ist alles recht. Nehmen Sie eine Ihrer Lieblingsstellen. Das würde mir gefallen. In Ordnung?»
    «Warum wollten Sie denn so unbedingt mit mir reden?» Sie tat nichts, um ihren Widerwillen zu verbergen.
    «Sie sehen aus wie jemand, den ich kenne, das ist alles. Kein Grund zur Unruhe. Es kommt mir jetzt selbst etwas albern vor, also warum lesen Sie nicht einfach etwas aus Ihrem Buch?»
    «Das ist kein Buch, das ist die Bibel.»
    «Die heilige Bibel», fügte Samson hinzu, indem er den Kopf zurücklehnte und die Augen schloss.
    Einen Moment herrschte Schweigen.
    «Soll ich wirklich?»
    «Sonst hätte ich Sie nicht gebeten.»
    Er hörte sie in den Seiten blättern. «Also dann, wie wäre es damit? Ich habe es gelesen, als ich in Indien war. Ich hatte das Gefühl, es hätte mich plötzlich aus einem jahrelangen Schlaf gerissen.»
    «Wunderbar.»
    «Mein Kopf war voll von diesem Hindu-Zeug, alles schön und gut, nur hatte ich Jesus ganz verdrängt, seit der Lehrer in der Sonntagsschule mir als Kind erzählt hatte, Jesus sei mein einziger wahrer Freund. Was ich damals – weil ich jung war und noch keine Glaubenskrise erlebt hatte – eine Gemeinheit fand.»
    Das war mehr, als Samson sich erhofft hatte. Das Mädchen fuhr fort.
    «Hier ist die Stelle. Aus dem Matthäus-Evangelium: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. » Samson glaubte, ein leichtes Beben in ihrer Stimme zu hören, und schlug die Augen auf. «Ist das nicht schön?», sagte sie und sah aus dem Fenster, während ihr Finger noch auf der Seite lag.
    «Ja. Ruhe für eure Seelen. Sehr schön. Was haben Sie in Indien gemacht?»
    «Hmm? Oh, wissen Sie, was macht man schon in Indien? In Ashrams leben, die Upanishaden lesen. Einem Guru hinterherlaufen, von dem man gehört hat, er sei der Größte. In Varanasi auf den Ufertreppen des Ganges herumhängen, die Einäscherungen angucken. Den Geruch von Sandelholz und

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