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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Herbsttage und den süßen frischen Grasgeruch im Sommer, genauso weit wie Indien von dort entfernt, wo sie jetzt waren. «Meine Eltern waren entsetzt. Sie erkannten mich kaum wieder. Als sie mich am Flughafen abholten, hörte meine Mutter gar nicht mehr auf zu weinen. Sie meinte, ich sehe aus wie eines dieser verhungerten Kinder im Fernsehen. Die man sich so ansieht, wenn man gemütlich bei einem Glas Martini die Sechs-Uhr-Nachrichten guckt, wissen Sie? Aber mich in die Arme zu nehmen oder so, damit hatte sie es nicht eilig. Ich glaube, sie hatte Angst, sich irgendwas zu holen. Also habe ich sie umarmt und ihr gesagt, sie sei ein Kind Gottes. Worauf sie noch mehr weinte.»
    Sie heiße Patricia, aber alle sagten Pip, so etwas komme häufig vor bei weißen, angelsächsisch-protestantischen Oberschichtfamilien, erklärte sie, dass die traditionellen Namen in der Kindheit durch kecke Spitznamen ersetzt würden, Apple, Kit oder Kat. Wie Kathleen Kennedy, die natürlich keine Protestantin, aber in demselben Geist Kick genannt worden sei. Schlagkräftige Namen, die sich irgendwie stark anhörten, nach der Rückkehr von Footballspielen in der ersten Dunkelheit, mit von Kälte und Begeisterung geröteten Wangen. Pip und Kick und Apple, und Snap und Crackle und Pop, fügte Samson innerlich hinzu. Und Chip und Pebble, fuhr Pip fort, wie die Mitglieder einer schnulzigen Siebziger-Jahre-Band.
    Minutenlang sagten sie nichts. Pip trommelte mit den Fingern gegen das Fenster, wo sie schmierige Abdrücke hinterließ. Samson wollte mehr. Er wollte so viel von ihr, wie sie zu geben bereit war.
    «Pip», sagte er.
    «Ja.»
    «Das ist hübsch.»
    «Es geht.»
    Sie hatte den Namen ein paar Mal gewechselt. Eine Weile hatte sie sich Pipalada genannt, nach dem Weisen, der in den Upanishaden sagt, man solle ein Jahr Enthaltsamkeit, Mäßigung und Glauben praktizieren, dann dürfe man fragen, was man wolle. Als das Jahr um war, legte sie sich den Namen Laura zu, nach einem Mädchen aus Minneapolis, das bei einem Busabsturz zu Tode gekommen war. Das war in den Bergen bei Manali in Nordindien gewesen. Aus Spalten an den kalten weißen Gipfeln waren tibetische Mönche aufgetaucht, Flüchtlinge in safrangelben Gewändern. Monate später, als sie zum ersten Mal nach zwei Jahren ihr Kinderzimmer betrat, weinte sie beim Anblick des gerahmten Makramees mit den Buchstaben P-I-P über ihrem Bett.
    Draußen war die Wüste gnadenlos, das Licht höchst intensiv. Der Bus machte einen Boxenstop, und nacheinander stiegen alle aus in die absurde Hitze. Samson holte zwei Dosen Cola aus einem Automaten und gab eine Pip. Er schoss ein paar Fotos von ihr, an den Bus gelehnt, als wären sie ein Touristenpaar. Sie posierte entspannt vor der Kamera; wahrscheinlich war sie als Kind oft fotografiert worden.
    «Früher habe ich auch Fotos gemacht. Als ich anfing zu reisen, habe ich alles aufgenommen», erklärte sie.
    «Und jetzt?»
    «Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe irgendwann meine Kamera verloren.»
    Sie zuckte die Achseln, bog die Blechlasche auf ihrer Dose vor und zurück und sagte dazu die Buchstaben des Alphabets auf. Bei K brach die Lasche ab.
    «K? Wer ist K? Meine nächste große Liebe wird jemand sein, dessen Name mit K beginnt.» Sie hielt inne, indem sie sich die eisgekühlte Dose an die Stirn drückte. «Ich weiß nicht mal, wie Sie heißen», sagte sie. Er sagte es ihr. «Wirklich? Oder ist das erfunden?»
    «Warum sollte ich es erfinden?»
    «Ich weiß nicht; es ist ein ungewöhnlicher Name. Ich nehme an, Sie kennen Samsons Geschichte? Aus dem Buch der Richter?»
    Seine Mutter hatte ihm einmal von Samson erzählt, einem Mann mit langem Haar und übernatürlichen Kräften. Das Haar war das Geheimnis seiner Stärke, aber die Frau, die er liebte, verriet ihn und schnitt es ab, während er schlief. Damals hatte die Geschichte ihn, den jungen, unbiblischen Samson, nicht sonderlich berührt.
    Sie stiegen wieder in den Bus, und Pip zog die Bibel heraus.
    «Unglaubliche Gewalt», sagte sie. Sie schlug das Buch nicht auf, hielt es nur in der geöffneten Hand, als prüfte sie sein Gewicht. Sie hatte alles im Kopf. In der Grundschule sei sie die Beste gewesen, erzählte sie ihm. Wenn sie etwas zweimal gelesen hatte, konnte sie es auswendig. Bei den Cocktailpartys ihrer Eltern wurde sie gebeten, Sachen vorzuführen.
    «Es steht im Buch der Richter. Samson richtete Israel zwanzig Jahre. Erst tötete er einen Löwen. Dann erschlug er tausend Philister mit dem

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