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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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wollt ich dir nur sagen. Hab mir vor Schiss in die Hose gemacht, aber es war phantastisch.»
    Er hörte Donald noch etwas sagen, aber es war nicht mehr von Belang, weil ihm hier und jetzt der Gedanke kam, die Leere, mit der er die ganze Zeit gelebt hatte, sei vielleicht gar keine Leere gewesen, sondern unerkannte Einsamkeit. Wie soll ein Mensch seine Einsamkeit erkennen, solange sein Geist nicht auf den eines anderen trifft? Ein einziges Zeichen war gesetzt, die Erinnerung eines anderen in sein Gehirn verpflanzt worden, und jetzt konnte Samson die Größe seines eigenen Verlustes nicht mehr übergehen. Es war atemberaubend. Er sank auf die Knie.
    «Sammy? Ich sagte, bist du noch da?»
    Es war, als wäre ein Streichholz angezündet worden, das nur erhellte, wie dunkel es wirklich war.

E r hörte auf zu schlafen. Er war erschöpft, wollte aber wach bleiben, damit ihm nichts entging. Er fühlte sich, als wäre er endlich wieder bei sich selbst. Die Erinnerung, die ihm in den Kopf geladen worden war, brach den Bann, der ihn seit dem Aufwachen nach der Operation beherrschte. Ihm war, als hätte er das vergangene Jahr in einem Trancezustand gelebt. Eine dissoziative Fugue , hatte er Lavell einmal sagen hören, um zu beschreiben, in welchem Zustand er gefunden worden sei, ohne sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Fuge, wie Fluch oder Flucht. Wie Beerdigungsmusik.
    Er kam sich töricht vor, dass er sich so bereitwillig von Ray hatte indoktrinieren lassen, dass er hungrig gefressen hatte, was immer der Doktor ihm hinwarf. Er hatte ihm vertraut, weil er der Einzige war, der seinem Zustand einiges an Schönheit, an Wert abzugewinnen schien. Der Einzige, für den er nicht das Opfer einer sinnlosen Tragödie, sondern ein irgendwie auserwählter Mensch war. Dabei wusste Samson fast nichts von ihm. Der einzige Beweis, dass er Ray überhaupt kannte, war die Erinnerung, die ihm, wenn er sie nicht bewusst unterdrückte, ständig im Kopf herumspukte. Es war eine aus dem Moment heraus entstandene Beziehung, experimentell erprobt bei einem Versuch, jenseits dessen alles, was dabei stattfand, folgenlos sein sollte. Ray war kein schlechter Mensch, nur einer, der sich von seinen Visionen irreführen ließ, der für die Jagd nach einer fernen, ungewissen Sache alle Schuldgefühle abgestreift hatte.
    Im Morgengrauen verließ Samson das Motel und ging zum Busbahnhof. Seit dem Zwischenfall im Krankenhaus war er nervös, jeden Moment darauf gefasst, dass die Polizei vor seinem Zimmer stand. Er überlegte kurz, ob er nach L.A. zurückfahren sollte, um Lana zu besuchen, entschied sich aber dagegen. Er wollte nicht deprimiert und stinkend dort auftauchen, um ihr und Winn, die jung und verliebt waren, ihr ganzes Leben vor sich hatten, auf die Nerven zu gehen. Was konnte sie jetzt schon noch für ihn tun? Er dachte daran, nach Kalifornien zurückzugehen, seine alten Straßen aufzusuchen und das Haus, in dem er aufgewachsen war. Er hatte das sichere Gefühl, er müsse dorthin unterwegs gewesen sein, als sie ihn vor einem Jahr in der Wüste gefunden hatten, und jetzt schien es genau richtig, diese Reise zu vollenden. Aber am Busbahnhof angekommen, verlor er den Glauben daran und saß teilnahmslos auf der Bank, während knatternd Leben in die Busse kam und der heller werdende Himmel ihr Scheinwerferlicht schluckte. Er stützte den Kopf in die Hände. Seine Augen brannten von zu wenig Schlaf.
    Ein staubiger Greyhound bot direkte Verbindung nach Santa Cruz, und während der Fahrer sich die Beine vertrat und im Bahnhofsgebäude Smalltalk machte, stieg ein Mädchen die Stufen hinauf und schielte hinein. Es saß noch niemand drin, sie trat den Rückzug an, blickte sich prüfend um und stieg verstohlen wie eine Diebin wieder ein. Sie wählte einen Platz hinten am Fenster. Als sie den Kopf gegen die Scheibe lehnte, holte Samson tief Atem, weil ihr kleines herzförmiges Gesicht Annas so ähnlich sah. Er hätte fast glauben können, durch einen Fehler in der Zeit sei es Anna, achtzehn oder neunzehn Jahre alt, erst vor einer Stunde im Bett ihrer Kindheit aufgewacht und schnell noch durch ihr Elternhaus geeilt, um jedem Zimmer einzeln Adieu zu sagen. Er wusste so wenig von seiner Frau. Am liebsten hätte er sie angerufen, um ihre Stimme zu hören, aber er wusste nicht, wie er auch nur anfangen sollte, ihr zu erklären, was alles passiert war und wie er sich fühlte, und zugleich wusste er, es wäre nicht fair, sie immer wieder zurückzuzerren, wenn sie in

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